Deutsche
Wiedervereinigung
Als
Deutsche Wiedervereinigung oder Deutsche Vereinigung (in der Gesetzessprache:
Herstellung der Einheit Deutschlands) wird der durch die friedliche
Revolution in der DDR angestoßene Prozess der Jahre 1989 und 1990
bezeichnet, der zum Beitritt der Deutschen Demokratischen Republik zur
Bundesrepublik Deutschland am 3. Oktober 1990 führte. Die damit
vollzogene Deutsche Einheit, die seither an jedem 3. Oktober als Nationalfeiertag
begangen wird, beendete den als Folge des Zweiten Weltkrieges in der
Ära des Kalten Krieges vier Jahrzehnte währenden Zustand der
Deutschen Teilung.
Richtungweisend
für diese Entwicklung war die Öffnung der Berliner Mauer am
9. November 1989, die den endgültigen Zerfall des politischen Systems
der DDR bewirkte. Notwendige äußere Voraussetzung der deutschen
Wiedervereinigung war das Einverständnis der vier Siegermächte
des Zweiten Weltkrieges, die bis dahin völkerrechtlich noch immer
die Verantwortung für Deutschland als Ganzes innehatten beziehungsweise
beanspruchten. Durch den Zwei-plus-Vier-Vertrag (Vertrag über die
abschließende Regelung in bezug auf Deutschland) wurde der Einheit
der beiden deutschen Staaten zugestimmt und dem vereinten Deutschland
die volle Souveränität über seine inneren und äußeren
Angelegenheiten zuerkannt. Staatsrechtlich spricht man, wie im Falle
des Saarlands 1957, von „Beitritt zum Geltungsbereich des Grundgesetzes
der Bundesrepublik Deutschland“, politisch und sozioökonomisch
von der Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik.
Maßgebliche
Zwischenstationen auf dem Weg der deutschen Wiedervereinigung waren
die Volkskammerwahl im März 1990 sowie der Staatsvertrag über
die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion. Am 20. September 1990
stimmten die Volkskammer der DDR und der Deutsche Bundestag dem Einigungsvertrag
zu, am darauf folgenden Tag der Bundesrat.
Zwei deutsche Staaten als Erben des Zweiten Weltkrieges
Die parallele
Existenz zweier deutscher Staaten in der zweiten Hälfte des kurzen
20. Jahrhunderts wurde durch die zeitgeschichtliche Entwicklung verschuldet,
die nach dem Ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik die Machtübernahme
der Nationalsozialisten unter Adolf Hitler ermöglicht sowie deren
zum Zweiten Weltkrieg und in die bedingungslose Kapitulation führende
großdeutsche Expansionspolitik zugelassen hatte. Winkler sieht
den Zeitraum der deutschen Zweistaatlichkeit durch einen eigentümlichen
12-Jahres-Rhythmus gegliedert, der sich von der beiderseitigen Staatsgründung
1949 über das einschneidende Datum des Mauerbaus 1961 und das Inkrafttreten
des Grundlagenvertrages zwischen der Bundesrepublik und der DDR 1973
bis zu der mit dem Amtsantritt Gorbatschows 1985 sich anbahnenden neuen
Ära der internationalen Beziehungen im Ost-West-Konflikt erstreckte.
Nachkriegssituation
und Gründung der beiden deutschen Staaten
Nach
der deutschen Kapitulation im Mai 1945 wurde das Deutsche Reich nicht
aufgelöst oder annektiert, sondern das nach der Westverschiebung
Polens übrige Deutschland wurde in die gemeinsame Verantwortung
der Siegermächte übernommen. Gemäß den in der Anti-Hitler-Koalition
auf der Konferenz von Jalta getroffenen Vorvereinbarungen, die 1945
mit der Juni-Deklaration umgesetzt wurden, teilten die alliierten Siegermächte
Deutschland in vier Besatzungszonen auf: die sowjetische, die amerikanische,
die britische und die französische. Eine entsprechende Aufteilung
schuf die künftige Viersektorenstadt Berlin. In gleicher Weise
verfuhren die Alliierten auch in Österreich und Wien.
Als gemeinsames
Verwaltungsorgan der vier Hauptsiegermächte für Deutschland
als Ganzes sollte ein Alliierter Kontrollrat fungieren, der auch die
Beschlüsse der Potsdamer Konferenz hätte umsetzen sollen.
Der aber bereits 1947 sich anbahnende Kalte Krieg, der den Westzonen
im Zuge des Marshallplans wirtschaftliche Aufbauhilfen eintrug und getrennte
Währungsreformen im Vereinigten Wirtschaftsgebiet und in der Sowjetischen
Besatzungszone (SBZ) zur Folge hatte, gelangte 1948 mit Berlin-Blockade
und Luftbrücke zu einer ersten Zuspitzung, die 1949 in die entgegengesetzte
Gründung zweier deutscher Staaten mündete. Das Grundgesetz
für die Bundesrepublik Deutschland wurde vom Parlamentarischen
Rat als vorläufige Verfassung angelegt und gemäß Präambel
mit dem Wiedervereinigungsgebot verknüpft.
Die beiden deutschen Staaten 1949–1961
Unter dem
Eindruck der deutschen Teilung und eines fehlenden Selbstbestimmungsrechts
der Ostdeutschen wurde die DDR seitens der Bundesrepublik von Anbeginn
nicht als eigener Staat anerkannt. Vielmehr kam eine Rechtsposition
zum Tragen, wonach das Deutsche Reich als Staat und Völkerrechtssubjekt
1945 nicht untergegangen, sondern lediglich handlungsunfähig geworden
sei. Die Gründung der Bundesrepublik Deutschland stellte demnach
eine staatsrechtliche Neuorganisation von dessen westlichem Teil dar.[4]
Auf das Fehlen freier Wahlen beziehungsweise des Selbstbestimmungsrechts
in der DDR gründete man westdeutscherseits einen Alleinvertretungsanspruch
der Bundesrepublik Deutschland für alle Deutschen. Eine eigene
Staatsbürgerschaft der DDR erkannte die Bundesrepublik bis 1990
nicht an, sodass jeder DDR-Flüchtling in der Bundesrepublik gleichberechtigt
als deutscher Staatsbürger anerkannt war.
Der niedergeschlagene
Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in der DDR, in dem auch Forderungen
nach Wiedervereinigung laut wurden und der als Folge in der Bundesrepublik
zum alljährlichen Gedenk- und Feiertag erhoben wurde, dem Tag der
Deutschen Einheit, bestärkte Tendenzen zur Abwanderung und Flucht
aus der DDR. Bis Ende der 1950er-Jahre blieben die Abwanderungsverluste
der DDR insbesondere nach West-Berlin so hoch, dass die sowjetische
DDR-Garantiemacht mit Chruschtschows Berlin-Ultimatum die zweite Berlin-Krise
heraufbeschwor. Nachdem im Gegenzug US-Präsident Kennedy als westliche
Kernpositionen den Verbleib der Westalliierten in Berlin, ihren freien
Zugang dahin und die Wahrung der Freiheitsrechte der Westberliner betont
hatte, löste die östliche Seite das massenhafte Abwanderungsproblem
ab dem 13. August 1961 durch Grenzabriegelung und durch die Errichtung
von Mauer und Todesstreifen.
Deutsch-deutsche
Beziehungen 1961–1989
Nachdem
sich die neue Teilungssituation – die großen Flüchtlingsströme
waren versiegt, dafür kam es immer wieder zu Todesfällen bei
Fluchtversuchen über die Berliner Mauer – als anhaltende
Wirklichkeit im allseitigen Bewusstsein niedergeschlagen hatte, ging
es im Westen bald zunehmend darum, auf menschliche Erleichterungen und
grenzüberschreitende Begegnungsmöglichkeiten insbesondere
zwischen Verwandten hinzuwirken. Als Impulsgeber fungierte dabei vor
allem Willy Brandt, unter dessen Verantwortung als Regierendem Bürgermeister
in West-Berlin es ab 1963 zu Passierscheinabkommen mit der DDR kam und
der im Zeichen des von seinem engen Berater Egon Bahr entwickelten Konzepts
„Wandel durch Annäherung“ als Bundeskanzler jene neue
Ostpolitik vorantrieb, die Anfang der 1970er-Jahre nach vertraglichen
Regelungen mit der Sowjetunion (Moskauer Vertrag) und der Volksrepublik
Polen (Warschauer Vertrag) zum Viermächteabkommen über Berlin
und zum Grundlagenvertrag zwischen beiden deutschen Staaten führte.
Die Bundesregierung wies die Sowjetunion bei der Unterzeichnung des
Moskauer Vertrages explizit auf ihr Ziel der Wiedervereinigung hin.
Der DDR-Führung
kam es in diesem Prozess vor allem darauf an, nach dem Prinzip der friedlichen
Koexistenz die gleichberechtigte Anerkennung der DDR als eigenständigen
Staat auch im Westen durchzusetzen. Hoch verschuldet und für Importe
aus dem Westen an notorischer Devisenknappheit leidend, suchte sie aus
den innerdeutschen Beziehungen finanzielle Vorteile zu ziehen, sei es
im Rahmen von Transitabkommen, sei es beim Häftlingsfreikauf.
Die von
der sozialliberalen Regierung begonnene neue Ostpolitik wurde durch
die Regierung Kohl/Genscher bruchlos fortgesetzt. Bereits Ausdruck gravierender
Probleme der DDR-Staatsfinanzen war der 1983 maßgeblich vom bayerischen
Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß eingefädelte
Milliardenkredit für die DDR. Als besonderen Erfolg des Bemühens
um Eigenständigkeit und Anerkennung konnte die DDR-Staatsführung
noch 1987 den Besuch Erich Honeckers in der Bundesrepublik verbuchen.
Unter dem Titel „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame
Sicherheit“ war kurz zuvor als Ergebnis mehrjähriger Beratungen
ein gemeinsames „Streitkulturpapier“ von ostdeutscher SED
und westdeutscher SPD veröffentlicht worden, in dem es u. a. hieß:
„Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung absprechen.
Unsere Hoffnung kann sich nicht darauf richten, daß ein System
das andere abschafft. Sie richtet sich darauf, daß beide Systeme
reformfähig sind und der Wettbewerb der Systeme den Willen zur
Reform beider Seiten stärkt.“
Krise,
friedliche Revolution und Wende in der DDR
Seit Mitte
der 1980er-Jahre geriet die DDR mehr und mehr in einen Zustand der Stagnation
und Krise. Dieser war zum einen bedingt durch die weiter wachsende Staatsverschuldung,
zum anderen durch eine zunehmende Isolierung innerhalb des Ostblocks,
da die DDR-Staatsführung jedes Eingehen auf die von der Sowjetunion
unter Gorbatschow angestoßenen Reformen im Zeichen von Glasnost
und Perestroika ablehnte und auch sowjetische Publikationen nun der
Zensur unterwarf. Noch im August 1989 bekräftigte Otto Reinhold,
Rektor der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee
der SED und maßgeblicher Widerpart von Erhard Eppler bei den besagten
SED-SPD-Konsultationen, was für ihn die Kernfrage der „sozialistischen
Identität der DDR“ darstellte, indem er einen Unterschied
zu allen anderen sozialistischen Ländern hervorhob: „Sie
alle haben bereits vor ihrer sozialistischen Umgestaltung als Staaten
mit kapitalistischer oder halbfeudaler Ordnung bestanden. Ihre Staatlichkeit
war daher nicht in erster Linie von der gesellschaftlichen Ordnung abhängig.
Anders als die DDR. Sie ist nur als antifaschistische, als sozialistische
Alternative zur BRD denkbar. Welche Existenzberechtigung sollte eine
kapitalistische DDR neben einer kapitalistischen Bundesrepublik haben?
Natürlich keine. Nur wenn wir diese Tatsache immer vor Augen haben,
wird klar erkennbar, wie wichtig für uns eine Gesellschaftsstrategie
ist, die kompromißlos auf die Festigung der sozialistischen Ordnung
gerichtet ist.“
Ausreisewelle und erstarkende Reformkräfte
Im 40.
Jahr nach der Staatsgründung geriet das SED-Regime nun auch von
innen auf zweifache Weise unter Druck: Bei nachlassender Bereitschaft
der „sozialistischen Bruderstaaten“, DDR-Bürger konsequent
an der Flucht in bundesdeutsche Botschaften oder über noch bewachte
Grenzen zu hindern und den DDR-Staatsorganen auszuliefern, gelang es
einer zunehmenden Zahl politisch und ökonomisch frustrierter DDR-Bürger,
sich über Drittstaaten in die Bundesrepublik abzusetzen. Zur „Wir-wollen-raus!“-Bewegung
kam jedoch eine „Wir-bleiben-hier!“-Bewegung hinzu, die
ein Ende der SED-Diktatur durch demokratische Reformen anstrebte.
Aus landesweiten
Protestansätzen gegen die gefälschten Kommunalwahlen vom Mai
1989 entstanden Oppositionsgruppen wie das Neue Forum und Ansätze
zu SED-unabhängiger Parteibildung wie im Falle der Ost-SPD. Insbesondere
unter dem Dach kirchlicher Einrichtungen fanden Ausreisewillige wie
Protestmotivierte Schutz und eigene Entfaltungsmöglichkeiten. Gotteshäuser
waren auch die Ausgangspunkte der Leipziger Montagsdemonstrationen,
durch die schließlich das Zurückweichen der Staatsmacht auf
friedlichem Wege erzwungen wurde.
Untergang
der SED-Diktatur
Der „Republikgeburtstag“
am 7. Oktober 1989 fand bereits unter sehr spannungsgeladenen Umständen
statt mit Protestaktionen und polizeilichen Übergriffen am Rande
der Festlichkeiten in Berlin. Zwei Tage später wichen in Leipzig
die in großer Zahl drohend aufgebotenen Einsatzkräfte vor
der schieren Masse von geschätzt 70 000 Demonstranten ohne Gewaltanwendung
zurück. Es war nach Winkler eine „neuartige Revolution, die
sich mit der Parole 'Keine Gewalt!‘ selbst zügelte und nicht
zuletzt deshalb ihr Ziel erreichte. Die 'friedliche Revolution‘
hatte bewußte und unbewußte Teilnehmer: Die bewußten
waren die Gründer der Bürgerrechtsgruppen und die Demonstranten,
die am 2. Oktober zur Masse zu werden begannen, die unbewußten
jene, die um ebendiese Zeit die DDR in Massen verließen.“
Diesem
zweifachen, zangenartigen Druck fortlaufend ausgesetzt, fiel das SED-Regime
in sich zusammen. Wichtige Stationen dabei waren die Ablösung des
Staatschefs Honecker durch Egon Krenz am 18. Oktober 1989, die Großdemonstration
auf dem Berliner Alexanderplatz am 4. November, die Grenzöffnung
an der Berliner Mauer am 9. November, die Kontrolle der neu gebildeten
Regierung Modrow durch den Zentralen Runden Tisch und die erzwungene
Auflösung des Stasi-Apparats.
Die
DDR auf West- und Wiedervereinigungskurs
Mit der
Maueröffnung und den nachfolgenden massenhaften Erkundungsbesuchen
der DDR-Bewohner im Westteil Berlins und in der Bundesrepublik änderte
sich die Stoßrichtung der politischen Willensbekundung im öffentlichen
Raum und auf Demonstrationszügen. Sie ist sprechend festgehalten
in einer Abwandlung des Slogans „Wir sind das Volk!“, der
auf politische Beteiligungsrechte und innerstaatliche Reformen in der
DDR zielte, zu „Wir sind ein Volk!“, was auf die Forderung
nach Herstellung der deutschen Einheit hinauslief. Unter den besonderen
innerdeutschen und außenpolitischen Umständen der Wende-Zeit
wurde damit ein durchschlagender Impuls gesetzt.
Schnell
erwiesen sich dadurch langfristige Pläne vertraglicher Bindungen
und enger Zusammenarbeit bis hin zu konföderativen Strukturen,
wie sie Bundeskanzler Kohls am 28. November 1989 vorgetragener Zehn-Punkte-Plan
enthielt, als überholt. Die wirtschaftliche Zwangslage und politische
Instabilität der DDR[8] ließen auch Regierungschef Hans Modrow
auf einen Kurs „Deutschland einig Vaterland“ einschwenken.
Der Termin für die am Runden Tisch vereinbarte freie Wahl zu einer
neuen DDR-Volkskammer wurde angesichts fortschreitenden Zerfalls der
staatlichen Ordnung vom Mai auf den 18. März 1990 vorgezogen.
Joachim
Gauck, der als Rostocker Mitglied des Neuen Forums zunächst seine
örtlichen Mitstreiter und Ende Januar 1990 in Berlin auch die Mehrheit
aller DDR-Delegierten des NF für die Idee der deutschen Einheit
gewonnen hatte, beschreibt die eigenen Gefühle anlässlich
der Stimmabgabe zur Volkskammerwahl, die mit einer Wahlbeteiligung von
93,4 % stattfand: „Dann kam der Wahltag, der 18. März 1990.
Als ich meine Stimme abgegeben hatte, liefen mir die Tränen über
das Gesicht. Ich musste fünfzig Jahre alt werden, um erstmals freie,
gleiche und geheime Wahlen zu erleben. Und nun hatte ich sogar die Möglichkeit,
ein wenig an der politischen Gestaltung der Zukunft mitzuwirken.“[9]
Bei insgesamt enttäuschendem Ergebnis für die politisch organisierten
DDR-Bürgerrechtler und einem in diesem Ausmaß als sensationell
empfundenen Wahlsieg der Allianz für Deutschland zog Gauck als
einer von zwölf Abgeordneten für Bündnis 90 in die neue
Volkskammer ein.
Von
der Volkskammerwahl zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion
Gauck saß
unter insgesamt 409 Abgeordneten in der neuen Volkskammer, in der die
drei größten Fraktionen mit 163 Mandaten die CDU, mit 88
die SPD und mit 66 Sitzen die PDS stellten. „Und was 40 Jahre
eine Lüge gewesen war“, schreibt Gauck, „würde
Wahrheit werden: eine Deutsche Demokratische Republik. Doch bei näherem
Hinsehen trübten sich meine Freude und mein Stolz: Etwa 185 der
neuen Abgeordneten hatten im untergegangenen System der SED oder einer
Blockpartei angehört.“ Nur wenige von ihnen waren allerdings
auch bereits Mitglieder der vorherigen Volkskammer. Obwohl die PDS als
aus der SED hervorgegangene Partei politisch isoliert war, einte die
Beteiligten im Umgang untereinander zumindest das gemeinsame Aufwachsen
in der DDR. Die Atmosphäre in den Volkskammersitzungen beschreibt
Gregor Gysi als vergleichsweise ungezwungen: „Man applaudierte,
wenn jemand einen klugen Gedanken geäußert hatte, selbst
wenn der Abgeordnete zu den politischen Gegnern gehörte. Einen
Fraktionszwang zu Buhrufen oder kollektiven Beifallskundgebungen gab
es nicht. Abstimmungsresultate waren mitunter offen.“ Es ist vorgekommen,
dass die Regierungsfraktionen von CDU und SPD aneinandergerieten, weil
bei kontroversen Abstimmungen die PDS-Abgeordneten mal für die
eine, mal für die andere Seite votierten.
Neuer Ministerpräsident
wurde am 12. April 1990 der CDU-Vorsitzende Lothar de Maizière,
der bereits stellvertretender Ministerpräsident in der Regierung
Modrow gewesen war und der für den Zentralen Runden Tisch die Geschäftsordnung
entworfen hatte. In der neuen Funktion lernte de Maizière das
ganze Ausmaß der desolaten Wirtschafts- und Finanzsituation der
DDR kennen: „Während in Westdeutschland 47 Prozent des Bruttosozialprodukts
in die öffentlichen Haushalte und 53 Prozent in Investitionen gingen,
waren es in der DDR 85 Prozent für den Konsum und nur 15 Prozent
für Investitionen. Damit konnten nur die geringsten Reparaturen
bezahlt und überhaupt keine Innovationen finanziert werden. Das
gesamte Vermögen des Landes (Betriebe, Wohnungen, Infrastruktur)
war veraltet, verwahrlost.“
Gegenüber
Modrow war de Maizière als frei gewählter Ministerpräsident
für die Regierung Kohl nun allerdings in der Rolle des unverzichtbaren
Verhandlungspartners und des nicht zu umgehenden Hauptverantwortlichen
auf Seiten der DDR im Einigungsprozess. Dafür wurden in der Volkskammer
Zweidrittelmehrheiten gebraucht, sodass die Regierungsbeteiligung der
Ost-Sozialdemokraten an der Regierung de Maizière beiderseits
in Frage und dann auch zustande kam.
Weichenstellungen
und Beschleunigungsfaktoren
Die nun
eintretende Entwicklung war auf westlicher Seite zuerst vom vormaligen
Chef des Kanzleramts und seinerzeitigen Innenminister Wolfgang Schäuble
vorgedacht worden. Als enger Berater des Bundeskanzlers hatte er Kohl
gegenüber schon im November 1989 die Erwartung geäußert,
dass die deutsche Einheit binnen Jahresfrist erreicht sein werde und
hatte Mitte Dezember im Kanzleramt den allerdings vorerst skeptisch
aufgenommenen Vorschlag unterbreitet, der Regierung Modrow unverzüglich
eine Wirtschafts- und Währungsunion anzubieten, um den Übersiedlerstrom
aus der DDR in die Bundesrepublik zu stoppen.
Bei anhaltender
finanzieller Zwangslage und drohender Zahlungsunfähigkeit der DDR
sowie einem im Januar 1990 ungebremsten Übersiedlerstrom –
täglich verließen unterdessen zwischen zwei- und dreitausend
Menschen die DDR, sodass die Produktion in vielen Betrieben nur mehr
äußerst schwierig aufrechtzuerhalten war, stellte die Bundesrepublik
der DDR am 7. Februar 1990 die Wirtschafts- und Währungsunion in
Aussicht. In Kohls Regierungserklärung vom 15. Februar hieß
es dazu:
„Es
geht jetzt darum, ein klares Signal der Hoffnung und der Ermutigung
für die Menschen in der DDR zu setzen Für die Bundesrepublik
Deutschland bedeutet das, daß wir damit unseren stärksten
wirtschaftlichen Aktivposten einbringen: Die Deutsche Mark. Wir beteiligen
so die Landsleute in der DDR ganz unmittelbar und direkt an dem, was
die Bürger der Bundesrepublik Deutschland in jahrzehntelanger beharrlicher
Arbeit aufgebaut und erreicht haben.“
Ein gravierendes
Problem waren die Übersiedlerzahlen jedoch nicht nur für die
DDR. Die Bundesregierung kam auch unter Druck seitens der westlichen
Bundesländer und der Opposition. Wie eine Bombe sei die Leipziger
Losung: „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n
wir zu ihr“, in Bonn eingeschlagen, bezeugt Richard Schröder.
Bereits im November 1989 hatte der saarländische Ministerpräsident
Oskar Lafontaine, Kanzlerkandidat in spe der SPD, eine Änderung
des Staatsbürgerrechts mit dem Ziel gefordert, sowohl Übersiedlern
als auch „volksdeutschen“ Aussiedlern aus dem osteuropäischen
Raum „den Zugriff auf die sozialen Sicherungssysteme der Bundesrepublik“
unmöglich zu machen. Der DDR und ihren Bewohnern sollten auf dem
eingeschlagenen Demokratiekurs besser Hilfen zum „Dableiben“
als zum „Weggehen“ geboten werden.
Durch seinen
Erfolg – eine absolute SPD-Mehrheit bei den saarländischen
Landtagswahlen im Januar 1990 – zusätzlich gestärkt,
fand Lafontaine für seine Position in Meinungsumfragen zeitweise
bis zu 80 Prozent Zustimmung, was angesichts der Ende des Jahres bevorstehenden
Bundestagswahlen in den Reihen von CDU und CSU bis in die Parteispitzen
hinein Eindruck machte und einigen Unmut auslöste gegenüber
der von Bundesinnenminister Schäuble vertretenen Position, der
weder vor noch nach der Volkskammerwahl vom 18. März am bisherigen
Aufnahmeverfahren rühren lassen wollte, sondern dessen Auslaufen
mit der möglichst baldigen Verwirklichung der Wirtschafts- und
Währungsunion verknüpfte.
Anders
als Lafontaine setzte Richard Schröder als Fraktionsvorsitzender
der Ost-SPD ebenfalls auf Tempo bei der Realisierung einer Währungsunion.
Es galt, „einen Pflock auf dem Weg zur deutschen Einheit einzuschlagen
und den Weg unumkehrbar zu machen. Das war für mich ein ganz wichtiger
Gesichtspunkt. Wir konnten nicht sicher sein, wie lange Gorbatschow
sich hält. Lieber mit einer ruinierten Wirtschaft in die Einheit
als mit einer fast ruinierten weiter im Sowjetblock.“
Die
Stunde der Exekutive
Aus der
Entscheidung für eine rasch zu realisierende Währungsunion
ergab sich die Verteilung der politischen Gewichte im Einigungsprozess,
nämlich eine strukturelle Dominanz der bundesdeutschen Verantwortlichen,
da es auf Seiten der DDR an ökonomischer und administrativer Expertise
für die Angleichung von Wirtschaftsordnung und Sozialsystemen auf
der Basis des bundesdeutschen Modells naturgemäß fehlte.
„Die Bundesrepublik übernahm das Kommando“, heißt
es lapidar bei Rödder. Dabei hatte der am 7. Februar 1990 eingerichtete
Kabinettsausschuss Deutsche Einheit mit seinen für bestimmte Sachbereiche
zuständigen Arbeitsgruppen eine die Gesamtabläufe koordinierende
Funktion; die detaillierte Ausgestaltung der politischen Vorgaben blieb
wesentlich der Ministerialbürokratie überlassen, die dabei
erheblich größere Gestaltungsräume ausfüllte als
in den üblichen Gesetzgebungsverfahren.
Bis zur
Regierungserklärung de Maizières am 19. April stand der
Bundesregierung noch nicht einmal ein einigermaßen handlungsfähiger
Partner gegenüber, sodass die wichtigen Weichenstellungen zunächst
allein von den westdeutschen Regierungs- und Verwaltungsstellen ausgingen.
Diese waren mit Plänen schon vordem zum Teil schnell bei der Hand.
Der von Finanzstaatssekretär Horst Köhler (später Bundespräsident)
am 26. Januar damit beauftragte Leiter des Referats Nationale Währungsfragen
Thilo Sarrazin präsentierte bereits drei Tage später ein Konzept
für die unverzügliche Einführung der D-Mark in der DDR
zum Umstellungskurs 1:1, verbunden mit einer Freigabe der Preise sowie
dem Ende von Subventionen und Planwirtschaft. Davon ließen sich
durch Köhler erst Finanzminister Theo Waigel, dann auch Bundeskanzler
Kohl überzeugen. Zum Zeitpunkt der Offerte einer Währungsunion
lagen folglich Grundzüge eines Umsetzungsplans bereits vor.
Mit der
Ausarbeitung entsprechender Grundlagen für einen Staatsvertrag
zwischen Bundesrepublik und DDR von Kohl beauftragt wurde Hans Tietmeyer,
früherer Finanzstaatssekretär und Mitglied des Bundesbankdirektoriums.
Der erste Entwurf dazu glich nach Ansicht des damaligen Leiters des
Arbeitsstabes Deutschlandpolitik im Kanzleramt Claus J. Duisberg in
Substanz und Sprache nahezu einem Unterwerfungsvertrag und musste, da
er so der neuen DDR-Regierung nicht präsentabel war, überarbeitet
werden. Fünf Tage nach de Maizières Regierungserklärung,
am 24. April 1990, legten beide Seiten die Zeithorizonte für die
Währungsunion fest: Schon zu den DDR-Kommunalwahlen am 6. Mai sollten
die Bürger in etwa absehen, was sie erwartete; die Bundesbank wiederum
sah sich zur Währungsumstellung in der DDR mit Datum 1. Juli 1990
technisch in der Lage.
Wirtschaftlicher
Umbruch in der DDR
Eine Währungsunion
ohne entsprechende Umgestaltung des DDR-Wirtschaftssystems kam für
die Bundesregierung und die sie tragenden politischen Kräfte nicht
in Frage. Marktwirtschaftliche Strukturen, freie Preisbildung und Privatisierung
der Staatsbetriebe gehörten folglich zu den Begleiterscheinungen
des Einigungsprozesses. Zum wichtigsten Förderinstrument des wirtschaftlichen
Umbruchs sollte die bereits von der Modrow-Regierung am 1. März
1990 gegründete „Anstalt zur treuhänderischen Verwaltung
des Volkseigentums“ werden, die der Umwandlung von Volkseigenen
Kombinaten, Betrieben und Einrichtungen in Kapitalgesellschaften dienen
sollte. Westliches Kapital wurde da aber noch außen vor gehalten,
eine durch den Treuhand-Gründungsbeschluss der Volkskammer vom
17. Juni 1990 korrigierte Ausrichtung.
Mit Inkrafttreten
des Gesetzes am 1. Juli 1990 übernahm die Treuhandanstalt 7.894
Volkseigene Betriebe mit vier Millionen Beschäftigten, etwa 40
Prozent aller Arbeitskräfte, sowie eine mehr als die Hälfte
der DDR umfassende Grundfläche. Dazu gehörten auch Kraftwerke
und Bergbauunternehmen, ausgedehnte Ländereien mit land- und forstwirtschaftlichen
Betrieben sowie Hotels und Gaststätten bis hin zu Zirkusbetrieben.
„Praktisch war die Treuhandanstalt damit für den ganz überwiegenden
Teil der DDR-Wirtschaft zuständig“, schreibt Duisberg. Nur
2 % der Betriebe wurden als fähig eingeschätzt, rentabel zu
arbeiten; 48 % hielt man für in diesem Sinne entwickelbar; 25 %
galten mit Abstrichen als sanierungsfähig, 21 % für stillzulegen
nötig (30 % wurden es schließlich).
Auf Vorerfahrungen
hinsichtlich der Überführung einer Zentralverwaltungs- bzw.
Planwirtschaft in marktwirtschaftliche Strukturen konnte nicht zurückgegriffen
werden. Die Treuhand-Führung verschrieb sich der Devise: „schnell
privatisieren – entschlossen sanieren – behutsam stillegen”.
An verlässlichem Wissen über die ostdeutsche Wirtschaft mangelte
es im Westen; für eine sorgfältige Bestandsaufnahme war keine
Zeit: „Rasch entfernten sich die tatsächlichen Erfahrungen
von den ursprünglichen Erwartungen.“
Die Produktivität
der DDR-Wirtschaft im Vereinigungsjahr lag bei weniger als einem Drittel
im Vergleich zur westdeutschen. Dies beruhte zu einem Gutteil auf einem
Prunkstück der DDR-Sozialpolitik: dem Recht auf Arbeit als allgemeiner
Beschäftigungsgarantie. Denn damit verbunden war eine unökonomische
Überbeschäftigung in vielen Betrieben und Verwaltungen und
als Folge „eine geringe Arbeitsmotivation und fast unüberwindliche
Hindernisse für die Anpassung der Betriebe an veränderte Produktions-
und Marktbedingungen.“ Der unmittelbare Übergang zur Marktwirtschaft
auf allen Ebenen entpuppte sich daher für viele als Schockerlebnis.
„Die
DDR-Wirtschaft verlor 1990 schlagartig fast alle ihre Kunden, nämlich
die Inlandskunden, weil die DDR-Bürger nur noch Westwaren kaufen
wollten. Sie verlor viele Auslandskunden aus dem Osten, weil der sozialistische
Wirtschaftsverbund RGW Anfang 1990 in Sofia beschloss, den internen
Handel auf Devisen umzustellen. Daraufhin kauften die Ungarn lieber
japanische Autos als DDR-Autos. Und sie verlor ihre westdeutschen Kunden,
weil die Ostwaren nicht mehr als Billigprodukte (z. B. IKEA) zur Verfügung
standen, wenn die Löhne im Osten mit Westgeld bezahlt werden mussten.“
Zusätzlich
beeinträchtigt wurde die Wettbewerbsfähigkeit der DDR-Unternehmen
im Einigungsprozess durch steigende Lohnkosten: Unter dem Eindruck der
Diskussion um die Währungsunion setzten die Beschäftigten
der ostdeutschen Unternehmen im zweiten Quartal 1990 eine Lohnerhöhung
um etwa 20 Prozent durch, in den ersten 15 Monaten nach der Währungsunion
um noch einmal 50 Prozent.
Der
Umstellungskurs im sozioökonomischen Spannungsfeld
Hundertmarkscheine
West und OstDie zunehmend deutlicher hervortretende geringe Arbeitsproduktivität
und Schwäche der DDR-Wirtschaft ließen Bundesbank und Bundesfinanzministerium
von der geplanten 1:1-Währungsumstellung abrücken. Am 29.
März 1990 kam es zu einer Entschließung des Zentralbankrats,
wonach die Umstellung hauptsächlich im Verhältnis 2 Ost-Mark
zu 1 DM durchzuführen sei. (Als marktgerechter Kurs konnte sogar
die Relation von 4,3 zu 1 gelten.)
Dies stand
allerdings im Widerspruch zu den von allen Parteien im Volkskammer-Wahlkampf
gemachten Versprechungen und führte zu Empörung und Protestdemonstrationen
in der ostdeutschen Bevölkerung. Tenor der in Ost-Berlin und mehreren
DDR-Städten abgehaltenen Demonstrationen: „Eins zu eins,
oder wir werden niemals eins!“ Eine Halbierung der Nettolöhne
(von 1988 durchschnittlich 854 Mark) hätte bedeutet, dass die Ostlöhne
zunächst großteils bei weniger als einem Fünftel der
Westlöhne gelegen hätten. Gewichtiger Fürsprecher des
1:1-Kurses in dieser Lage war Bundesarbeitsminister Norbert Blüm,
der sich bereits am 27. März brieflich an Kohl gewandt und gemahnt
hatte, „daß ein Umstellungssatz, der unter der Relation
von 1:1 liegt, zu tiefgreifenden sozialen Verwerfungen sowie zu destabilisierenden
politischen Folgewirkungen führen würde.“
Die politisch
Verantwortlichen in der DDR hielten durchgängig an der Forderung
nach 1:1-Umstellung fest. Der Vorsitzende der Ost-SPD Markus Meckel
machte die Regierungsbeteiligung seiner Partei davon abhängig;
Ministerpräsident de Maizière legte sich ebenfalls darauf
fest und bezeichnete ein solches Umtauschverhältnis in seiner Regierungserklärung
vom 19. April 1990 als grundlegend. Hinsichtlich einer 1:1-Umstellung
sämtlicher privaten Guthaben von geschätzt 190 Milliarden
Mark wurde aber westlicherseits ein inflationstreibender Geldüberhang
befürchtet, bei 1:1-Bewertung der Unternehmensschulden andererseits
der finanzielle Ruin zahlloser Betriebe, die nun den üblichen Kapitalmarktzins
bei der Bedienung ihrer Schulden zu erwarten hatten.
Aus der
internen Kompromisssuche von Bundesregierung und Bundesbank sowie den
anschließenden Verhandlungen zwischen beiden Regierungsspitzen
ergab sich am 2. Mai 1990 die letztgültige Regelung: Laufende Einkommen
und Rentenzahlungen wurden im Verhältnis 1:1 umgestellt; Sparguthaben
und Verbindlichkeiten (so auch die Unternehmensschulden) generell 2
: 1. Davon ausgenommen und wiederum 1:1 umgestellt wurden private Sparguthaben
in bestimmter, nach Alter differenzierter Höhe: 2000 Mark pro Kind
im Alter bis zu 14 Jahren; 4000 Mark für Personen bis 59 Jahren
und 6000 Mark für die noch Älteren.
Sozialunion
in Wunsch und Wirklichkeit
Neben die
Währungsunion und die anlaufende marktwirtschaftliche Transformation
trat als drittes Element im Ersten Staatsvertrag zwischen Bundesrepublik
und DDR die Sozialunion. Zwar hatten Wirtschaftskreise und Bundesbank
zunächst Bedenken erhoben, dass die vollständige Übertragung
der sozialen Sicherungssysteme auf die DDR private Investitionen und
den wirtschaftsstrukturellen Umbau behindern könnten; doch behielten
die hierin einigen Wirkkräfte von Bundesarbeitsministerium, Gewerkschaften,
Sozialdemokraten und Volkskammerparteien die Oberhand.[36] In Anbetracht
der vielfältig einschneidenden Änderungen der Lebensverhältnisse
ging es schließlich darum, den Ostdeutschen eine neue Form sozialen
Halts zu verschaffen, da die überschaubare und geregelte bisherige
Existenz zu Ende ging. De Maizière als Regierungschef hatte dabei
etwa folgenden typischen Werdegang eines in Kombinatsnähe geborenen
DDR-Bürgers vor Augen:
„War
er geboren, kam er in die kombinatseigene Krippe, um nach drei Jahren
in den kombinatseigenen Kindergarten überzuwechseln. War er krank,
ging er in die Polyklinik des Kombinats. Im Sommer besuchte er das Ferienlager,
das dem Kombinat gehörte, und anschließend war er noch 14
Tage mit den Eltern in der kombinatseigenen Ferieneinrichtung. Seine
Lebenserwartungen waren gradlinig, quasi schienenfahrzeughaft: 14. Lebensjahr
Jugendweihe mit Moped-Geschenk und Trabant-Anmeldung; 16. Lebensjahr
Facharbeiterabschluß; 20. Lebensjahr Ende der NVA-Dienstzeit und
Eintritt ins volle Erwerbsleben. Nach dem Besuch der kombinatseigenen
Betriebsberufsschule war die Übernahme in den Betrieb gesichert.
Und wenn er nicht silberne Löffel stahl, blieb er dort. Es galt
als ehrenrührig, seinen Arbeitsplatz zu kündigen. Man wechselte
eben nicht. Dem folgte eine frühe Eheschließung, weil nur
ein Ehepaar einen Antrag auf Zuweisung einer gemeinsamen Wohnung stellen
konnte, auf die man ohnehin acht Jahre zu warten hatte.“
Die Erwerbsquote
von Frauen im arbeitsfähigen Alter lag in der DDR 1989 bei 81 Prozent
und damit weit über der in Westdeutschland. Sie wurde gefördert
durch bezahlte Freistellung im Rahmen eines Babyjahres und durch ein
weitreichendes Angebot an Kinderbetreuungsstätten.
Als Orientierungsgrundlage
für die DDR-Verantwortlichen diente in den Verhandlungen über
die Sozialunion die noch vom Zentralen Runden Tisch entworfene und am
7. März 1990 von der Volkskammer beschlossene Sozialcharta. Man
strebte die Einheit auf dem Wege eines „wechselseitigen Reformprozesses
beider deutschen Sicherungssysteme“ an, woraus sich insgesamt
ein höheres soziales Sicherungsniveau ergeben sollte. Gefordert
wurden unter anderem die Bewahrung der Rechte auf Arbeit, Wohnung mit
wirksamem Mietschutz, kostenlose Aus- und Weiterbildung sowie gesundheitliche
Betreuung. Bei der aus der Sozialcharta resultierenden Kombination von
bundesdeutschen Sozialleistungen mit sozialer Sicherheit nach DDR-Muster
blieb allerdings die Frage der Finanzierung offen. Westdeutscherseits
wurde das heftig kritisiert und als Ausdruck fehlenden Realitätssinns
angeprangert.
Akut besserungsbedürftig
stellte sich unter DDR-Bedingungen vor allem die Lage von Rentnern,
Invaliden, Behinderten und Hinterbliebenen dar, denen also, die nicht
unmittelbar am Produktionsprozess beteiligt waren: „Die Alten-
und Invalidenrenten aus der Pflichtversicherung boten nicht mehr als
eine weitgehend nivellierte Grundversorgung auf sehr niedrigem Niveau,
die nur wegen der hohen Subventionierung der Güter des Grundbedarfs
nicht zur völligen Verarmung führte. Das durchschnittliche
Haushaltseinkommen der ostdeutschen Rentner lag 1983 nominal nur bei
einem Viertel, bei Berücksichtigung der Kaufkraftunterschiede bei
etwa einem Drittel des westdeutschen Niveaus.“ Mit der Übertragung
des westlichen Rentenrechts stiegen die Ostrenten von 30–40 Prozent
des durchschnittlichen Arbeitseinkommens auf 70 Prozent nach 45 Beitragsjahren.
Auch insgesamt
führte die Sozialunion zu einer Übertragung des westdeutschen
sozialen Sicherungssysteme auf die DDR, wobei hier übergangsweise
einige günstigere Regelungen z. B. für Frauen erhalten blieben.
Nachdem der Staatsvertrag in der Volkskammer mit 302 gegen 82 Stimmen,
im Bundestag mit 444 zu 60 Stimmen und im Bundesrat gegen die Stimmen
des Saarlands und Niedersachsens schließlich am 22. Juni angenommen
war, hatten vom Datum des Inkrafttretens am 1. Juli 1990 ab West- und
Ostdeutsche die D-Mark als gemeinsame Währung.
Äußere
Voraussetzungen des Einigungsprozesses
Der außenpolitische
Schlüssel zur deutschen Einheit lag nach der Überzeugung beider
deutschen Regierungen, auch bereits zu Zeiten der Regierung Modrow und
des Zentralen Runden Tisches, in Moskau. Dort machte Gorbatschow der
Bundesregierung am 10. Februar 1990 das grundlegende Zugeständnis,
dass die Deutschen in Ost und West selbst wissen müssten, welchen
Weg sie gehen wollten. Sie hätten das Recht, die Einheit anzustreben.
In der sowjetischen Presse betonte er 11 Tage später die Verantwortung
der Vier Mächte, denen die Deutschen nicht einfach ihre Vereinbarungen
zur Billigung vorlegen dürften, die „Unverrückbarkeit“
der Nachkriegsgrenzen in Europa und die Notwendigkeit der Einbettung
einer Wiedervereinigung in die Schaffung einer neuen gesamteuropäischen
Sicherheitsstruktur.
Bereits
am 2. Februar hatte Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher
den Vorschlag des State Departements gutgeheißen, die äußeren
Rahmenbedingungen des Einigungsprozesses in Zwei-plus-Vier-Verhandlungen
festzulegen. Als beim Treffen der Außenminister von NATO und Warschauer
Pakt am 13. Februar in Ottawa die Vertreter Italiens und der Niederlande
die eigene Beteiligung an den Verhandlungen über die deutsche Einheit
forderten, war die Zwei-plus-Vier-Konstellation unter den Beteiligten
bereits so verankert, dass Genscher den Kollegen energisch entgegnen
konnte: „You are not part of the game!“ Von da an vergingen
aber noch zwei Monate, bis am 12. April mit Markus Meckel der DDR-Vertreter
für diese Verhandlungen die Amtsgeschäfte überhaupt erst
aufnehmen konnte.
Auch auf
diesem Feld waren also bereits Weichen gestellt, bevor die DDR-Seite
sich wirksam einzubringen vermochte. Vom Zentralen Runden Tisch her
bestand die Vorstellung eines entmilitarisierten Status’ für
das geeinte Deutschland. Die Friedensbewegung der DDR war ein wichtiger
Sammelpunkt früher SED-Opposition nicht zuletzt im Schutze der
Kirchen gewesen. Das neue Außenministerium unter Führung
des Theologen Meckel ging mit Idealismus und Gestaltungsanspruch an
die Arbeit, wollte nicht bloß die Rolle des Bonner Juniorpartners
und Erfüllungsgehilfen spielen. Mit Vorstellungen über eine
gesamteuropäische Sicherheitsordnung, Neutralität und Überwindung
des Blockdenkens sah man sich den Zielen Gorbatschows näher als
denen der Bundesregierung. Insgesamt aber fehlte es nicht nur an internationaler
und diplomatischer Erfahrung, sondern angesichts akuter wirtschaftlicher
Schwäche und absehbar befristeter Wirkungsmöglichkeiten an
tatsächlichem Einfluss.
Herstellung
einer gemeinsamen Haltung des Westens
Wenig angetan
von der Perspektive einer Vereinigung von DDR und Bundesrepublik waren
unter den für die deutsche Frage immer noch mitverantwortlichen
Westmächten die Regierungen Frankreichs und Großbritanniens,
die eine künftige Dominanz Deutschlands und eine Störung des
europäischen Gleichgewichts fürchteten. Seit der Reichsgründung
zur Zeit Bismarcks, argumentierte die britische Premierministerin Margaret
Thatcher, habe Deutschland „stets auf unberechenbare Weise zwischen
Aggression und Selbstzweifeln geschwankt“. Vom Wesen her sei Deutschland
eher eine destabilisierende Kraft im europäischen Gefüge.
Im Ergebnis ähnlich äußerte sich zunächst auch
Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand, der den
Deutschen zwar das Selbstbestimmungsrecht zubilligte, sie aber nicht
berechtigt sah, „die politischen Realitäten in Europa durcheinanderzubringen“.
Wie zur Unterstreichung diesbezüglicher französischer Vorkehrungen
reiste Mitterrand noch in der zweiten Dezemberhälfte 1989 zum Staatsbesuch
in die DDR und schloss mit der Regierung Modrow ein langfristiges Handelsabkommen.
Eine andere,
aber letztlich den Ausschlag gebende Position nahm die US-Administration
unter George H. W. Bush ein, indem sie frühzeitig die deutsche
Einheit befürwortete und dies mit der Vorgabe verknüpfte,
dass ein wiedervereinigtes Deutschland dem NATO-Bündnis angehören
sollte. Mit Bundeskanzler Kohl verständigte sich Bush Ende Februar
1990 in Camp David über die gemeinsame Linie in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen,
wobei Bush auch bereits das Einlenken Margaret Thatchers mitteilen konnte.
Denn die britische Regierung misstraute Gorbatschows Vision einer gesamteuropäischen
Friedensordnung unter Auflösung der Bündnisblöcke und
wollte die engen Beziehungen zu den USA nicht aufs Spiel setzen. Für
Frankreich aber war ein Kernziel die Fortsetzung der europäischen
Integration im Wege einer Wirtschafts- und Währungsunion, zu der
die deutsche Bundesregierung eine grundsätzliche Bereitschaft zugesagt
hatte, während Großbritannien sie ablehnte. „Beide
Mächte sahen schließlich, dass der innere Einigungsprozess
Deutschlands nicht aufzuhalten war, da die Sowjetunion schließlich
kein Veto gegen die deutsche Einheit einlegen würde, und dass in
dieser Situation ihren sicherheitspolitischen Interessen durch die Einbindung
eines vereinigten Deutschlands in die NATO am besten entsprochen würde.“
Bereits
im Januar 1990 wurden seitens der Europäischen Gemeinschaft (EG)
unter dem französischen Kommissionspräsidenten Jacques Delors
die Weichen für eine zügige Aufnahme der DDR in die EG gestellt,
wobei Delors da auch die deutsche Einheit bereits ausdrücklich
befürwortete. Vor dem Europäischen Parlament erklärte
er die DDR zu einem Sonderfall, auf den der vorläufige Erweiterungsstopp
nicht anzuwenden sei. Bei einem Sondergipfel in Dublin begrüßten
die Staats- und Regierungschefs der EG am 28. April die sich anbahnende
Vereinigung Deutschlands und bewerteten sie als positiven Faktor für
die künftige Entwicklung der Gemeinschaft. Mit ihrer vornehmlich
in wirtschaftlicher Hinsicht konstruktiven Unterstützung hat insbesondere
die Europäische Kommission auch die kleineren EG-Mitgliedsstaaten
in den deutschen Einigungsprozess eingebunden.
Bündnisfrage
und Endgültigkeit der deutschen Grenzen
Während
unter den Westmächten noch vor der Volkskammerwahl im März
Übereinstimmung in Bezug auf die Förderung der deutschen Einheit
und auf die NATO-Zugehörigkeit des vereinten Deutschlands hergestellt
war, blieb einstweilen offen, ob die Sowjetunion das auch hinzunehmen
bereit war, was noch Anfang 1990 kaum erwartet wurde. In den Moskauer
Verhandlungen vom 10. Februar brachte Gorbatschow eine Blockfreiheit
nach dem Vorbild Indiens oder Chinas ins Gespräch und machte deutlich,
dass er eine Schwächung des Warschauer Pakts im Kräfteverhältnis
zur NATO als Folge der deutschen Einheit nicht hinnehmen würde.
Anfänglich hatte auch Bundeskanzler Kohl Zweifel an der diesbezüglichen
amerikanischen Linie und war am 18. Januar mit Meinungsverschiedenheiten
gegenüber Washington zitiert worden: „Er denke aber, dass
sich die amerikanische Auffassung bei einer Veränderung des Verhältnisses
zwischen NATO und Warschauer Pakt ändern könnte.“ Erst
bei den direkten Kontakten mit Bush in Camp David legte Kohl sich auf
die amerikanische Linie einer uneingeschränkten gesamtdeutschen
NATO-Mitgliedschaft als westliches Verhandlungsziel fest (mit einer
militärischen Übergangsregelung für das Gebiet der DDR),
während er zuvor Genschers vermittelnde Position eingeschränkter
NATO-Zuständigkeiten für das DDR-Territorium unterstützt
hatte. Danach allerdings verfocht Kohl den neuen Kurs auch teils mit
der bestimmten Aussage, er sei nicht bereit, die NATO-Bündniszugehörigkeit
für die deutsche Einheit auf das Spiel zu setzen.
Die sowjetische
Haltung in dieser Frage war veränderlich und schwankend, sodass
auf Seiten der Bundesregierung zunehmend Optimismus überwog, die
westliche Linie durchsetzen zu können. Vor Beginn der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen
gab Gorbatschow die Devise aus: „Deutschland darf nicht in die
NATO eintreten und damit basta.“ Wenige Wochen später pflichtete
er aber bei Konsultationen in Washington am 31. Mai George Bush bei,
als der sagte: „Die USA plädieren eindeutig für die
Mitgliedschaft des vereinten Deutschlands in der NATO, wenn Deutschland
jedoch eine andere Wahl trifft, werden die USA nicht dagegen einschreiten,
sondern diese respektieren.“ Diese Konzession wurde von allen
überrascht aufgenommen, auch innerhalb der sowjetischen Verhandlungsdelegation
selbst. In den Wochen danach kam es mit Rücksicht auf den bevorstehenden
KPdSU-Parteitag Anfang Juli, wo der Eindruck außenpolitischer
Schwäche vermieden werden sollte, neuerlich zu einer härteren
sowjetischen Gangart in der Bündnisfrage. Beim zweiten Außenministertreffen
im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Konferenzen am 22. Juni 1990, dem 49. Jahrestag
des NS-deutschen Angriffs auf die Sowjetunion, forderte Eduard Schewardnadse
eine fünfjährige Übergangszeit des Verbleibs beider Teile
Deutschlands in den jeweiligen Bündnissystemen, während die
DDR-Delegation unter Markus Meckel eine künftige europäische
Sicherheitsordnung als zentral bedeutsamen Verhandlungsgegenstand etablieren
wollte. Beides stand in deutlichem Gegensatz zu westlichen Interessen
und Positionen.
Mit der
Vereinigung beider deutschen Staaten stand 1990 die völkerrechtlich
endgültige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze als polnische
Westgrenze auf der Tagesordnung, da die Frage der Grenzregelung im Osten
in Ermangelung eines Friedensvertrags nie abschließend geklärt
worden war. Hierzu gab es keine sinnvolle Alternative, da sie frühzeitig
von allen Verhandlungspartnern der Bundesrepublik gefordert worden war
– US-Präsident Bush hatte seine Zustimmung zur Wiedervereinigung
direkt von ihr abhängig gemacht.
Auf bundesdeutscher
Seite wurde diese Frage lange in der Schwebe gehalten, seitens der DDR
lag die Anerkennung der „Oder-Neiße-Friedensgrenze“
bereits ab 1950 vor. Die nachkommunistische Regierung Mazowiecki machte
dies zur Bedingung ihrer Zustimmung zur deutschen Einheit. Kohl andererseits
konnte sich auf ein Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1973 stützen,
wonach die deutsch-polnische Grenze erst durch ein vereinigtes und vollständig
souveränes Deutschland anerkannt werden könne. Diesbezüglich
lag nach Rödder eine Inkompatibilität von völkerrechtlichen
und politischen Argumentationsebenen vor, zudem überlagert von
äußeren Forderungen und inneren Rücksichten. Einerseits
hielt Kohl die Grenzanerkennung womöglich noch als Gegengewicht
gegen eventuelle polnische Reparationsforderungen vor; hauptsächlich
aber galten seine Vorbehalte der Rücksichtnahme auf die Heimatvertriebenen
als wichtige Wahlklientel der Unionsparteien.
Gegen Kohls
Unbeweglichkeit in dieser Frage standen aber nicht nur die Regierungen
Polens und der Sowjetunion, sondern auch die Westmächte, die DDR-Regierung
und der Koalitionspartner FDP mit Bundesaußenminister Genscher.
Als wichtiges Zugeständnis gemeint war die Einigung der Koalitionsfraktionen
auf eine Bundestagsresolution vom 8. März 1990, der zufolge bald
nach den Volkskammerwahlen beide deutschen Parlamente erklären
sollten, dass mit Blick auf die deutsche Einheit die Unverletzlichkeit
der Grenzen gegenüber der Republik Polen bekräftigt und alsbald
von einer gesamtdeutschen Regierung auch vertraglich besiegelt werden
würde. Auch damit gaben sich aber weder Mazowiecki noch Mitterrand
zufrieden, sondern forderten gemeinsam weitergehende Sicherheiten und
die Beteiligung Polens an den Zwei-plus-Vier-Gesprächen, was wiederum
Kohl verärgerte. Ende Mai äußerte er sich in einem Brief
an de Maizière besorgt über das weitere Vorgehen in dieser
Frage, nachdem die DDR-Verhandlungsführung einen unabgesprochenen
Vertragsentwurf in die trilateralen Gespräche mit Polen eingeführt
hatte.
Für
endgültige Klarheit in den eigenen Reihen und nach außen
sorgte Kohl in der Bundestagsdebatte am 21. Juni 1990, in der er erklärte:
„Entweder wir bestätigen die bestehende Grenze, oder wir
verspielen heute und für jetzt unsere Chance zur deutschen Einheit.“
Es sei nunmehr ebenso Zeit für eine dauerhafte Aussöhnung
zwischen Deutschen und Polen, wie das zwischen Deutschen und Franzosen
möglich geworden sei. Auch aus den Reihen der den Vertriebenen
nahestehenden Abgeordneten kamen nur mehr 15 Gegenstimmen, als der Bundestag
– und in einem gleichlautenden Beschluss die Volkskammer am Tag
darauf – den Willen erklärte, dass der Verlauf der Grenze
zwischen dem vereinten Deutschland und Polen durch einen völkerrechtlichen
Grenzvertrag endgültig bekräftigt werden würde.
Interessenausgleich
mit der Sowjetunion
Die in
der zweiten Runde der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen am 22. Juni von Schewardnadse
verfochtene fünfjährige Übergangsregelung bei der Bündniszugehörigkeit
des vereinten Deutschlands, die als deutlicher Rückschlag gegenüber
den vorherigen Signalen der Moskauer Führung aufgefasst wurde,,,
unterstrich die Notwendigkeit, den politischen Interessen Gorbatschows
und seiner Mitstreiter entgegenzukommen, um den mit der Währungsunion
voll in Fahrt gekommenen deutschen Einigungsprozess auch außenpolitisch
zeitnah abschließen zu können. Nur mit Gorbatschow und den
ihn stützenden Reformkräften in der SU, so die Überzeugung
in den westlichen Regierungszentralen, konnte das gelingen.
Gorbatschow
aber steckte mit seinem Reformprojekt 1990 bereits in großen Schwierigkeiten.
Der wirtschaftliche Umbau kam kaum voran, Versorgungsmängel wurden
spürbar; und im sowjetischen Staatsverband kam es insbesondere
durch die Unabhängigkeitsbestrebungen der baltischen Staaten zu
ersten Auflösungserscheinungen. Während der US-Senat das baltische
Selbstbestimmungsrecht und die Loslösungsstreben klar unterstützte,
war die deutsche Bundesregierung wesentlich darauf bedacht, Gorbatschow
auf keine Weise nachhaltig zu verprellen. Besondere Bereitschaft zum
Entgegenkommen gegenüber den sowjetischen Vorstellungen zeigte
Außenminister Genscher, der bereits Anfang 1987 eine Kursänderung
angemahnt hatte: „Sitzen wir nicht mit verschränkten Armen
da und warten, was Gorbatschow uns bringt! Versuchen wir vielmehr, die
Entwicklung von unserer Seite voranzutreiben und zu gestalten…
Festigkeit ist geboten, aber eine Politik der Stärke, des Strebens
nach Überlegenheit, des In-die-Ecke-Rüstens muß ein
für allemal zu den Denkkategorien der Vergangenheit gehören
– auch im Westen.“ Im Einigungsprozess 1990 war Genscher
mehr als Kohl bereit, eine stärkere Truppenreduzierung bei der
Bundeswehr und einen militärischen Sonderstatus der DDR im Gefolge
der Vereinigung zu akzeptieren. Beide Seiten strebten von Beginn der
Zwei-plus-Vier-Verhandlungen eine „Paketlösung“ hinsichtlich
des Interessenausgleichs an, wobei die Gewährung der Einheit und
Souveränität Deutschlands für die sowjetische Seite sowohl
machtpolitisch gesichtswahrend zustande kommen als auch ökonomisch
und finanziell möglichst einträglich kompensiert werden sollte.
Bereits
im Januar 1990 war ein dringliches sowjetisches Ersuchen um Lebensmittelhilfe
als Chance genutzt worden, das politische Klima zu erwärmen. Kohl
befürwortete eine entsprechende Stützungsaktion mit dem Hinweis,
wenn Gorbatschow stürze, könne man auch die Wiedervereinigung
vergessen. Das Eintreten für Wirtschaftshilfen zugunsten der Sowjetunion
und Osteuropas auf dem Weltwirtschaftsgipfel in Houston (9.–11.
Juli 1990) begründete Kohl vorab im CDU-Bundesvorstand mit der
Einschätzung, für die Sowjetunion sei die Frage der künftigen
Wirtschaftsbeziehungen am Ende wichtiger als die NATO-Zugehörigkeit
Deutschlands. So reagierte Kohl auch auf die Anfrage Schewardnadses
am Vorabend der ersten Zwei-plus-Vier-Runde positiv, der dringlich um
Kredithilfe bat. Verhandlungen darüber wurden von Teltschik und
Vertretern deutscher Großbanken am 14. Mai in Moskau auch direkt
mit Gorbatschow geführt, dem Kohl am 22. Mai ein Kreditangebot
über 5 Milliarden DM zukommen ließ. Den wegen Bonität
und Zahlungsfähigkeit der Sowjetunion besorgten Bankern erklärte
der Kanzler mit Bezug auf die Wiederherstellung der deutschen Einheit,
man befinde sich in der Lage des Bauern, der vor dem heraufziehenden
Gewitter die Ernte noch rechtzeitig in die Scheune bringen müsse.
Die reale
Getreideernte in der DDR war im Sommer 1990 über die Maßen
üppig ausgefallen: zwölf Millionen Tonnen bei nur sieben Millionen
DDR-Eigenverbrauch. Im August machten die Bauern Anstalten, die Felder
anzuzünden – aus der Sicht de Maizières einer der
dramatischsten Momente seiner Regierungszeit: „Ich dachte, das
Land würde untergehen, wenn es so weiterging.“ Mit Hilfe
der Bundesregierung wurden dann Getreideverkäufe nach Russland
organisiert. „Es war eigentlich ein Geschenk an die Russen, die
ja nicht zahlungsfähig waren.“
Als wichtige
Etappe auf dem Weg, die NATO-Zugehörigkeit des vereinten Deutschlands
für die Sowjetunion akzeptabel zu machen, ist der Londoner NATO-Gipfel
der Staats- und Regierungschefs vom 5./6. Juli 1990 anzusehen, der eine
neue, defensive Ausrichtung des Bündnisses beschloss und die Mitglieder
des Warschauer Paktes einlud, sich gemeinsam über den Verzicht
auf die Androhung und Anwendung von Gewalt zu einigen. Diese politische
Umorientierung der NATO bedeutete zugleich einen außenpolitischen
Erfolg und zusätzlichen Prestigegewinn für Gorbatschow auf
dem zeitgleich stattfindenden KPdSU-Parteitag in Moskau, der seine vordem
fraglich gewordene Stellung festigte. Von der im Zuge dieser Verhandlungen
der Sowjetunion zugesagten Zurückhaltung bei der NATO-Osterweiterung
wich der Westen später ab, was in Russland Unmut hervorrief.
Danach
war Gorbatschow bereit, in der deutschen Frage, die er in seinem Parteitagsreferat
mit keinem Wort erwähnt hatte, reinen Tisch zu machen. Bei Verhandlungen
und Gesprächen in Moskau und in Gorbatschows kaukasischer Heimat
am 15. und 16. Juli, die in gelockerter Atmosphäre und in einem
teils privaten Ambiente stattfanden, kam Gorbatschow der deutschen Verhandlungsdelegation
unter Führung des Bundeskanzlers in allen noch ungeklärten
Fragen weit entgegen: Der unmittelbare Verbleib des vereinten Deutschlands
in der NATO wurde zugestanden, was für die Einwilligung der USA
notwendig war, wobei der Geltungsbereich des westlichen Verteidigungsbündnisses
für eine Übergangszeit bis zum vollständigen Abzug der
sowjetischen Truppen 1994 sich nicht auf DDR-Gebiet erstrecken sollte.
Übergangslos und zeitgleich mit der Vereinigung wurde nun auch
das Ende der Viermächte-Verantwortung gewährt. Die Obergrenze
der gesamtdeutschen Streitkräfte wurde Kohls Vorstellungen entsprechend
auf 370.000 fixiert. Als „sensationell“ ordnete Teltschik
Gorbatschows Zugeständnis ein, dass Teile der Bundeswehr bereits
im Zuge der Vereinigung auf DDR-Gebiet und in Berlin stationiert und
mit dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte in die NATO integriert
werden konnten.
Truppenabzugsregelung
und Erlangung der vollen Souveränität
Wie bereits
Ende Mai gegenüber Bush traf Gorbatschow auch im Juli 1990 beim
Treffen mit der von Kohl geführten deutschen Delegation die zentralen
deutschlandpolitischen Entscheidungen im Alleingang. Die Auflösungserscheinungen
innerhalb des Warschauer Pakts waren unterdessen fortgeschritten. Bis
zum Juli 1990 waren wichtige Mitgliedsstaaten zu der Einschätzung
gelangt, die NATO-Mitgliedschaft eines vereinten Deutschlands sei gegenüber
einer Neutralisierung vorzuziehen. Die Aufrechterhaltung eines militärischen
Außenpostens durch fortgesetzte Präsenz sowjetischer Truppen
auf DDR-Territorium ergab unter diesen Umständen auch für
die im Reformprozess befindliche Sowjetunion immer weniger Sinn.
Das Gesamtpaket
des deutsch-sowjetischen Interessenausgleichs nach den Vereinbarungen
des Kaukasus-Treffens im Juli bestand aus fünf Verträgen,
die im Einzelnen auszuhandeln blieben: ein deutsch-sowjetischer Generalvertrag,
der Vertrag über die Stationierung und den Abzug der sowjetischen
Truppen, der Überleitungsvertrag über die damit verbundenen
Kosten, ein allgemeiner Wirtschaftsvertrag sowie der Zwei-plus-Vier-Vertrag.
Die gebotene Eile angesichts des für den 3. Oktober vorgesehenen
Termins der Vereinigung stärkte die sowjetische Verhandlungsposition
vor allem in der Frage des Truppenabzugs: Je schneller der gewünschte
Abzug durchzuführen wäre, desto teurer konnte man sich ihn
bezahlen lassen. Bei Ausgangsberechnungen und Angebotsvorstellungen
über 4–6 Milliarden DM deutscherseits sah sich Kohl mit sowjetischen
Forderungen für ein Wohnungsbauprogramm, für Transportkosten
und Umschulungsmaßnahmen für das Sowjetmilitär von zusammen
18,5 Milliarden DM konfrontiert. Gorbatschow ließ keinen Zweifel,
dass die deutschen Ziele mit den von Kohl erst angebotenen 8 Milliarden
und nach Gesprächsvertagung 11 Milliarden DM nicht erreichbar waren.
Man einigte sich schließlich am 10. September bei 12 Milliarden
DM, auf vier Jahre verteilt, zuzüglich eines zinslosen Kredits
über drei Milliarden DM mit fünfjähriger Laufzeit.
Während
die höchst problematische Entwicklung der sowjetischen Perestroika
und die daraus resultierende prekäre Stellung Gorbatschows im Westen
bekannt waren und das Handeln mitbestimmten, kam mit der militärischen
Intervention des Iraks in Kuwait am 2. August 1990 ein Vorgang ins Spiel,
der das „window of opportunity“, das Zeitfenster zur Herstellung
der deutschen Einheit, für Teltschik auch bezüglich der USA
begrenzte. Man könne sich angesichts des sofortigen energischen
Kuwait-Engagements der USA glücklich schätzen, dass während
der ersten Jahreshälfte nichts Wichtiges sonst die Aufmerksamkeit
von der deutschen Frage abgezogen habe und dass die außenpolitischen
Rahmenbedingungen der Einheit bereits geklärt seien: „Ich
frage mich, ob es uns gelungen wäre, die notwendigen Entscheidungen
im Rahmen des amerikanisch-sowjetischen Gipfels, des Sondergipfels der
NATO und des Weltwirtschaftsgipfels so reibungslos durchzusetzen, wenn
etwa der Golf-Konflikt zwei Monate früher begonnen hätte.
Am Vorabend
der Unterzeichnung des Zwei-plus-Vier-Vertrages in Moskau spitzte sich
die Verhandlungssituation noch einmal zu, als Großbritannien und
die USA verlangten, mit eigenen Truppen NATO-Manöver auf DDR-Gebiet
auch vor dem sowjetischen Truppenabzug bestreiten zu können. Erst
eine nächtliche Intervention Genschers bei US-Außenminister
James Baker brachte auch dafür zuletzt eine diplomatische Lösung.
So kam es am 12. September zum einvernehmlichen Verhandlungsabschluss
und zur Unterzeichnung des Vertrages über die abschließende
Regelung in bezug auf Deutschland, der das vereinte Deutschland innerhalb
der Grenzen von DDR und Bundesrepublik endgültig definierte, Bündnisfreiheit
festschrieb, ABC-Waffen ausschloss, Truppenstärken für die
deutschen Streitkräfte festlegte und den sowjetischen Truppenabzug
bis 1994 regelte. Da die vier Mächte ihre Rechte und Verbindlichkeiten
mit einer Erklärung vom 1. Oktober 1990 suspendierten, war Deutschland
nach Vollzug der Einheit von Anbeginn ein souveräner Staat.
Der
Weg zum Einigungsvertrag
Unmittelbar
nach dem Inkrafttreten der Währungsunion wurden am 6. Juli 1990
innerdeutsche Verhandlungen über einen zweiten Staatsvertrag aufgenommen,
der auf Wunsch der DDR-Vertreter aber so nicht heißen sollte.
Dem Eindruck der Zweitrangigkeit sollte entgegengetreten werden und
in dem Begriff Einigungsvertrag zum Ausdruck kommen, dass die DDR anders
als bei der Währungsunion wesentlich Eigenes einzubringen hatte.
Die Hauptverantwortlichen für die Vertragsverhandlungen waren auf
westlicher Seite Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble und für
die DDR der Parlamentarische Staatssekretär beim Ministerpräsidenten
Günther Krause, der die DDR-Seite bereits bei den Verhandlungen
zum Ersten Staatsvertrag vertreten hatte und gleichzeitig CDU-Fraktionsvorsitzender
in der Volkskammer war.
Das Verhandlungsergebnis
musste aber nicht nur mit Krause und de Maizière abgestimmt werden,
sondern es brauchte auch jeweils Zweidrittelmehrheiten in der Volkskammer,
in Bundestag und Bundesrat. Daher kam es für Schäuble auch
darauf an, die Vertreter der westlichen Bundesländer erfolgreich
in die Verhandlungen einzubinden, zumal im Bundesrat die SPD-geführten
Länder unterdessen eine Mehrheit besaßen. Länderinteressen
waren u. a. bei finanziellen Regelungen und bei der künftigen Stimmenverteilung
im gesamtdeutschen Bundesrat, bei der Aushandlung eines Wahlgesetzes
für die ersten Bundestagswahlen nach der Vereinigung und in der
Hauptstadtfrage zu berücksichtigen. Weitere wichtige Verhandlungsgegenstände
betrafen die verfassungsrechtliche Form der Vereinigung, die partielle
Fortgeltung von DDR-Recht, die Klärung von Eigentumsfragen bzw.
Rückerstattungsansprüchen, die Reorganisation von Verwaltung
und Bildungseinrichtungen auf DDR-Gebiet sowie den Umgang mit der Stasi-Erblast.
Verfassungsrechtliche
Optionen im politischen Kräftefeld
Verfassungsrechtlich
konnten seitens der Bundesrepublik zwei Wege zur deutschen Einheit beschritten
werden, nämlich der Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes
(GG) gemäß Artikel 23 GG[82] oder die Ablösung des ursprünglichen
Provisoriums Grundgesetz durch eine neue gemeinsame Verfassung, die
gemäß Art. 146 GG[83] durch Volksabstimmung zu beschließen
war. Für die zweite Alternative setzten sich weite Teile der DDR-Bürgerrechts-
und Oppositionsbewegung ein, dazu die westdeutsche Linke, die Grünen
und viele Sozialdemokraten. Da dieser Weg jedoch als der weit zeitaufwändigere
und kompliziertere eingeschätzt wurde, hatte er in Anbetracht der
turbulenten Begleitumstände und wegen eines erwartbar begrenzten
Zeitfensters für das Gelingen des Einigungsprozesses von Anbeginn
nur geringe Verwirklichungschancen. Die Volkskammerwahl im März,
das Bekenntnis der Regierung de Maizière zu zügiger und
verantwortungsvoller Realisierung der deutschen Einheit auf der Grundlage
von Art. 23 GG und die unverzüglich umgesetzte Währungs-,
Wirtschafts- und Sozialunion ließen für Aushandlung, öffentliche
Debatte und Abstimmung einer neuen gesamtdeutschen Verfassung keinen
Raum.
So lief
alles auf jenen Einigungsplan zu, den Bundesinnenminister Schäuble
mit Kohls Unterstützung von Anbeginn verfolgte. Im Rahmen des am
7. Februar 1990 konstituierten Kabinettsausschusses „Deutsche
Einheit“ leitete Schäuble die Arbeitsgruppe „Staatsstrukturen
und öffentliche Ordnung“ und bildete im Innenministerium
einen eigenen Arbeitsstab „Deutsche Einheit“.
„Meine
Vorgabe für den Arbeitsstab lautete, daß wir – ohne
den Weg zur oder den Zeitpunkt der deutschen Einheit schon zu kennen
– dafür arbeiten mußten, im Falle des Falles nicht
unvorbereitet zu sein. Dabei habe ich es für unerheblich gehalten,
ob die Einheit durch einen Einigungsvertrag vorbereitet werden würde
oder ob sie unmittelbar nach der Volkskammerwahl, etwa bei einer wie
immer begründeten krisenhaften Zuspitzung plötzlich und
rechtlich unvorbereitet zustande kommen würde. In jedem Fall
war eine Überleitung des Rechts der Bundesrepublik Deutschland
auf die DDR, gegebenenfalls in Stufen mit Einschränkungen und
Vorbehalten, zu leisten, unabhängig davon, ob diese Überleitung
im voraus per Vertrag vereinbart oder danach als Überleitungsgesetzgebung
vom Gesetzgeber zu beschließen war. Für diese Überleitung
war das Innenministerium federführend zuständig, und deswegen
mussten wir uns darauf vorbereiten. Schließlich habe ich meinen
Mitarbeitern auch gesagt, daß man gedanklich immer die schnellere
Entwicklung zugrunde legen sollte. Hätte man sich auf die schnellere
Entwicklung vorbereitet, war man es zugleich auch für die langsamere
Variante.“
Tatsächlich
bestand jederzeit die Möglichkeit, dass die DDR per Volkskammerbeschluss
auch ohne Einigungsvertrag einseitig ihren Beitritt gemäß
Art. 23 GG erklärte. Einen solchen Vorstoß seitens der DSU
gab es dann auch am 17. Juni 1990. Nach einer Gedenkveranstaltung im
Konzerthaus am Berliner Gendarmenmarkt, bei der Hauptredner Manfred
Stolpe als Ergebnis des zügig umzusetzenden Einigungsprozesses
etwas Neues anmahnte: „Der Westen kommt in die DDR, aber die DDR
kommt auch in den Westen“, beantragte die DSU noch am selben Tag
in der Volkskammer, den sofortigen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik
Deutschland zu beschließen. Der Antrag gelangte gegen die Mehrheit
des Hauses allerdings nicht auf die Tagesordnung, wurde in den zuständigen
Ausschuss verwiesen und dort auf die lange Bank geschoben.
Zu den
von Schäuble vertretenen verhandlungsstrategischen Grundpositionen
gehörte die Beschränkung der Regelungsmaterie auf das unmittelbar
Nötige, damit sowohl rechtzeitig als auch mit den nötigen
Zweidrittelmehrheiten in den drei Gesetzgebungskammern der Einigungsvertrag
unter Dach und Fach kommen könnte. Diese Linie vertrat er sowohl
in der ersten Verhandlungsrunde am 6. Juli gegenüber de Maizière,
der u. a. Vorschläge zur Erweiterung des Grundgesetzes um die Staatsziele
Recht auf Arbeit und Umweltschutz einbrachte, als auch weiterhin gegenüber
westlichen sozialdemokratischen Ländervertretern und den mit Überleitungsregelungen
befassten Ressortmitarbeitern der diversen beteiligten Ministerien,
die im Wege der Einigung womöglich Wunschregelungen durchzubringen
versuchten, die bis dahin gescheitert waren.
Reorganisation
von Recht und Verwaltung im Beitrittsgebiet
Die Beitrittsperspektive
nach Artikel 23 GG (a.F.) bedeutete nicht, dass auch das gesamte in
der DDR geltende Recht unmittelbar mit Vollzug der Einheit hinfällig
war. Vielmehr gehörte es zu den besonders aufwendigen Begleitaktivitäten
bei der Aushandlung des Einigungsvertrages zu prüfen, welche der
vielen bestehenden bundesdeutschen Gesetze und Verordnungen mit Vollzug
der Einheit zwingend gesamtdeutsch zur Anwendung gelangen mussten. Diese
Aufgabe war nur ressortübergreifend von den jeweiligen Ministerialverwaltungen
zu leisten. Da für das DDR-Recht keine kodifizierte Sammlung existierte,
stellte sich der Abgleich der jeweiligen Materie umso schwieriger dar;
er geschah in Abstimmung mit den jeweiligen Ressorts seitens der DDR.
Zunehmend
dringlich nach Aufnahme der Verhandlungen bedurfte es einer Grundsatzentscheidung
darüber, ob im Regelfall zunächst DDR-Recht weitergelten und
bundesdeutsches Recht bis auf weiteres nur nötigenfalls zur Anwendung
kommen sollte oder ob umgekehrt Bundesrecht die Norm und DDR-Recht die
Ausnahme bilden sollte. Während Schäuble die dem Saar-Beitritt
1957 entsprechende erstere Variante bevorzugte, weil er sich von einer
vergleichsweise geringen Regelungsdichte eine schnellere Angleichung
der Lebensverhältnisse versprach, gab es andererseits u. a. die
Sorge, im Beitrittsgebiet hätte dann etwa der Umweltschutz das
Nachsehen. Die entgegengesetzte Position vertraten das Bundesjustizministerium,
die Arbeitgeber und Bundesarbeitsminister Blüm. Letzterer favorisierte
die zweite Alternative als Signal für den mit der Sozialunion begonnenen
Aufbau eines leistungsfähigen Sozialversicherungssystems nach bundesdeutschem
Muster und erwartete dadurch eine erleichterte Anpassung der DDR an
EG-Recht. Den damit bereits kurzfristig verbundenen Kosten stellte sich
auch Bundesfinanzminister Waigel nicht in den Weg. Zu einer Änderung
der Haltung von DDR-Verhandlungsführer Krause, der bis dahin mit
Schäuble übereingestimmt hatte, kam es in der zweiten Verhandlungsrunde
zum Einigungsvertrag Ende Juli 1990. Dazu heißt es bei Richard
Schröder:
„Die
Übernahme der westlichen Ordnung ist von der letzten Volkskammer
beschlossen worden, die aus freien Wahlen hervorgegangen ist. Es ist
deshalb eine eklatante Missachtung des Volkswillens der Ostdeutschen,
wenn behauptet wird, der Westen habe dem Osten seine Ordnung übergestülpt,
wie ich oft von Westdeutschen gehört habe.“
Man habe
Schäuble östlicherseits erklärt, dass ein Zivilgesetzbuch
für eine zentralistische Planwirtschaft und eine Diktatur untauglich
sei für eine Marktwirtschaft mit eigenverantwortlichem wirtschaftlichen
Handeln der Bürger. Damit war die Sache entschieden.
Ähnlich
wie bei Wirtschafts- und Rechtssystem standen auch Verwaltungs- und
Bildungseinrichtungen der DDR im Zuge der innerdeutschen Vertragsverhandlungen
auf dem Prüfstand. Die von der DDR-Delegation dazu vorgelegten
Zahlen riefen, so Duisberg, auf westdeutscher Seite Betroffenheit hervor:
Insgesamt 1,74 Millionen Beschäftigte in der öffentlichen
Verwaltung, dazu die Bahnbeschäftigten (252.000), die Post (229.000)
und die NVA (183.000). Die 1,74 Millionen Staatsdiener der DDR entsprachen
laut Schäuble mehr als dem Dreifachen der zur nämlichen Zeit
im öffentlichen Dienst des vergleichbar großen Bundeslandes
Nordrhein-Westfalen beschäftigten Beamten und Angestellten. Erheblicher
Personalabbau schien ihm unvermeidlich geboten, damit die finanzielle
Leistungsfähigkeit von Bund und Ländern nicht erdrosselt würde.
Den von Krause auf Art. 36 GG bezogenen Ableitungen einer weitreichenden
Übernahmepflicht der DDR-Bediensteten unter Berücksichtigung
von Quoten hielt Schäuble Art. 33 GG entgegen, der den Zugang zu
öffentlichen Ämtern an Eignung, Befähigung und fachliche
Leitung binde.
Als Instrument
zur Durchführung des Verwaltungsstellenabbaus wurde zunächst
von Seiten des Bundesaußenministeriums, das gar keine Möglichkeiten
zur Übernahme von DDR-Diplomaten sah, wie auch von anderen Ministerien
eine zentrale Personal-Treuhandstelle vorgeschlagen. Eine solche Einrichtung
wäre nach Schäubles Auffassung auf die Zuständigkeit
des Innenministeriums für das gesamte Personal öffentlicher
Verwaltung auf DDR-Gebiet hinausgelaufen. „Ein einzelnes Ressort
aber konnte die Aufgabe, über zwei Millionen Menschen künftig
in den Verwaltungen von Bund, neu zu schaffenden Ländern und Kommunen
unterzubringen oder – zu einem erheblichen Teil – aus dem
öffentlichen Dienst zu entlassen, niemals bewältigen.“
Schäuble setzte sich damit durch, dass jedes Ressort „die
Verantwortung für das seiner Zuständigkeit obliegende Personal
zu übernehmen und Überleitungsregeln zu schaffen habe.“
Für Bedienstete in künftiger Länderzuständigkeit
waren die Länder zuständig, in der Übergangszeit die
sogenannten Landessprecher unter der Aufsicht des Bundesinnenministers.
Für
die individuell von Entlassungen Betroffenen war dies allerdings kein
tröstlicher Umstand. Sie kostete das geeinte Deutschland den bisherigen
gesicherten Arbeitsplatz, auf den in höheren Stellen nicht selten
Westdeutsche nachrückten. Richard Schröder weist aber die
Rede von der Kolonisierung des Ostens durch den Westen zurück:
„In
Wahrheit waren es die Betriebsbelegschaften und Lehrerkollegien, Gemeindevertretungen
und Bürgerversammlungen, die im Herbst 1989 die Ablösung der
bisherigen Direktoren und Bürgermeister erfolgreich ins Werk gesetzt
und einen ersten Elitenwechsel herbeigeführt haben. Das war ein
Ost-Ost-Elitenwechsel. Westdeutsche waren da noch gar nicht in Sicht.“
Es sei
dann mit der Übernahme der westlichen Ordnung ganz selbstverständlich
ein westlicher Fachleute-Bedarf entstanden. „Das kann man wieder
als Entmündigung der Ostdeutschen beklagen. Es setzt sich aber
niemand gern in ein Flugzeug, wenn ihm erklärt wird: Der Pilot
lernt grad noch.
Neuordnung
der Eigentumsverhältnisse
Da im Staatssozialismus
der DDR kollektives Eigentum eine klare Vorrangstellung vor dem Privateigentum
der Individuen hatte, insbesondere im Bereich der Wirtschaft, aber je
nach Bedarf auch bei den Immobilien, bedurften im Zuge des Einigungsprozesses
auch die Eigentumsverhältnisse in der DDR einer Neuregelung.
„Infolge
der kollektiven und individuellen Enteignungen sowie von sonstigen
staatlichen Eingriffen jeglicher Art war in der DDR eine Lage entstanden,
in der nicht nur die Eigentumsverhältnisse schwer durchschaubar
waren, sondern auch die Eigentumsrechte selbst weitgehend ihre alte
Bedeutung verloren hatten. Rechte am Grundstück und an dem darauf
stehenden Gebäude fielen oft auseinander, ohne daß dies
klar erkennbar war. Auch die Grundbücher wurden meistens nur
noch unzulänglich geführt. Soweit es noch privaten Haus-
und Grundbesitz gab, war er überdies in vielen Fällen durch
Zwangsmiete und extensiven Kündigungsschutz mehr Last als Vermögen.
Insofern zählte weniger das Eigentum als das Nutzungsrecht; dieses
allein war von wirklichem Wert.“
Da es bei
diesen Verhältnissen im vereinten Deutschland nicht bleiben konnte,
stellte sich bei der Herstellung einer den bundesdeutschen Verhältnissen
entsprechenden Eigentumsordnung also zugleich das Problem, wie mit den
in der ostdeutschen Vergangenheit erfolgten entschädigungslosen
Enteignungen umgegangen werden sollte. In dieser Frage gab es politische
Entscheidungsspielräume, da die Eigentumsgarantie gemäß
Artikel 14 GG sich nur auf dessen Geltungsbereich erstreckte, nicht
aber rückwirkend auf die DDR vor ihrem Beitritt. Auf bundesdeutscher
Seite entwickelte man die Maßgabe, dass in 40 Jahren DDR neue
wirtschaftliche und soziale Umstände entstanden seien, die nicht
ohne Weiteres rückgängig gemacht werden könnten, wollte
man nicht teils altes Unrecht durch neues ersetzen. Es komme auf sozialverträgliche
Kompromisse unter Berücksichtigung der Interessen aller Beteiligten
an. Weder die Festschreibung der DDR-Zwangsmaßnahmen bis 1989
noch deren komplette Rückgängigmachung bis zum Mai 1945 seien
in diesem Sinne als realisierbar anzusehen.
Zwei gesondert
zu betrachtende Phasen gab es bezüglich der stattgefundenen Enteignungsmaßnahmen:
die Phase der sowjetischen Besatzungshoheit 1945 bis 1949 und die Zeit
der sowjetisch gestützten SED-Herrschaft in der DDR 1949 bis 1989.
Bereits im Dezember 1989 war anlässlich des Besuchs von Bundeskanzler
Kohl in Dresden beim Treffen mit Modrow eine gemeinsame Kommission zu
Eigentumsfragen vereinbart worden, in deren Verhandlungen die Sowjetunion
mit einbezogen wurde. Dort wie auch in den Zwei-plus-Vier-Verhandlungen
forderte die Sowjetunion, dass die Unantastbarkeit ihrer Maßnahmen
als Besatzungsmacht verbürgt würde, speziell in Boden- und
Eigentumsfragen. „Im Sommer 1990 wollte die Volkskammer ein Häftlingsentschädigungsgesetz
beschließen, das auch politische Häftlinge zwischen 1945
und 1949 entschädigen sollte. Die Legitimität der Urteile
wollten wir nicht thematisieren. Trotzdem protestierte die sowjetische
Seite umgehend und drohte, den Zwei-plus-Vier-Prozess anzuhalten, wenn
wir dieses Gesetz beschließen.“ Schäuble sah die größte
Entschiedenheit in dieser Frage auf Seiten der DDR und insbesondere
bei de Maizière, der erklärte, die DDR werde keinen Vertrag
unterschreiben, der vor die Bodenreform zurückwolle, und hinzufügte:
„das wird keine politische Gruppierung in der DDR jemals unterschreiben.
Dafür gibt es keine Mehrheiten.“
Mit der
Suche nach einer Konsensformel beauftragt wurden die Staatssekretäre
Günther Krause für die DDR-Seite und Klaus Kinkel auf Seiten
der Bundesregierung. In der Gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni
1990 hieß es schließlich: „Die Regierungen der Sowjetunion
und der Deutschen Demokratischen Republik sehen keine Möglichkeit,
die damals getroffenen Maßnahmen zu revidieren. Die Regierung
der Bundesrepublik Deutschland nimmt dies im Hinblick auf die historische
Entwicklung zur Kenntnis. Sie ist der Auffassung, dass einem künftigen
gesamtdeutschen Parlament eine abschließende Entscheidung über
etwaige staatliche Ausgleichsleistungen vorbehalten bleiben muß.“
Eine differenziertere
Lösung angestrebt wurde für die 40 Jahre DDR-Geschichte zwischen
1949 und 1989. Dabei ging es um Enteignungen im staatlichen Interesse
mit nur minimaler Entschädigung, um beschlagnahmte Immobilien und
Vermögen von DDR-Flüchtlingen sowie um in Westdeutschland
lebende Grundeigentümer, die ihre Liegenschaften durch Zwangsverwaltung
und Zwangsversteigerung vielfach ebenfalls an den Staat verloren hatten.
Den vormaligen Eigentümern gegenüber standen in großer
Zahl gutgläubige Besitzer von enteigneten oder unter Zwangsverwaltung
stehenden Grundstücken, die darauf mit behördlicher Duldung
ein Gebäude errichtet hatten, oft in Form der gartenhausähnlichen
Datsche, die aber ausgebaut oft auch als ständige Wohnung diente.
„Ein
solches privates Refugium war der Traum vieler; und wer das Glück
hatte, sich ihn zu erfüllen, scheute keine Mühe, seinen
Besitz so schön und bequem wie möglich auszugestalten. Nur
wer wusste, wie schwer in der DDR Baumaterial zu bekommen war –
oft nur mit Beziehungen oder gegen Westgeld –, der konnte ermessen,
welche Energie, Zeit und Arbeitskraft darauf gewendet worden war.
Diese Welt aber, an der das Herz – und ein Stück Lebensarbeit
– vieler kleiner Leute hing, war nun an nicht wenigen Stellen
durch Rückgabeansprüche von Alteigentümern ernsthaft
bedroht.“
In der
genannten Gemeinsamen Erklärung vom 15. Juni 1990 hieß es
dazu entgegen mehrheitlichen Interessen auf DDR-Seite wie auch seitens
der westlichen Sozialdemokratie, dass grundsätzlich die Rückgabe
des Grundvermögens an den ehemaligen Eigentümer oder seine
Erben erfolgen sollte. Nicht zum Tragen kommen sollte diese Regelung,
wo Grundstücke oder Gebäude gewerblicher oder öffentlicher
Nutzung unterlagen, im Wohnungs- oder Siedlungsbau verwendet oder von
Dritten in „redlicher“ Weise erworben worden waren. Richard
Schröder schreibt im Rückblick:
„Zunächst
war die Aufregung über den Grundsatz Rückgabe vor Entschädigung
im Osten riesengroß. Skandalöse Einzelfälle von Westdeutschen,
die vor der Haustür standen und den Bewohnern ohne Rechtsgrundlage
erklärten, das Haus gehöre ihnen und sie müssten schnellstens
ausziehen – andere platzierten gleich auf 'ihrem’ Grundstück
ihren Wohnwagen –, gingen wie ein Lauffeuer durch die Presse
und mobilisierten Vertreibungsängste. Dadurch wurde der Grundsatz
‚Rückgabe vor Entschädigung’ als Bevorzugung
Westdeutscher wahrgenommen, von denen manche Omas Häuschen längst
vergessen hatten. Anderen war ununterbrochen der Verlust des Elternhauses
bewusst geblieben. Es haben aber auch sehr viele Ostdeutsche von ihm
profitiert. Auch ich habe mit meinen Geschwistern unser Elternhaus
zurückbekommen.“
In der
Praxis sei die Regelung der Eigentumsfrage sehr kompliziert geraten,
so Schröder, „weil immer wieder neue Fallgruppen auftauchten
und dem Mieter- und Naturschutz Rechnung getragen werden sollte.“
Mehr Alt- als Neueigentümer dürften demnach von der Rechtsprechung
enttäuscht worden sein. „Ob man diese Regelung 'Rückgabe
vor Entschädigung mit vielen Ausnahmen’ oder 'Entschädigung
vor Rückgabe mit vielen Ausnahmen’ nennt, macht keinen großen
Unterschied.“
Vorkehrungen
gegen die in der DDR sich ausbreitende „Angst vor dem Ausverkauf“
hatte noch die Regierung Modrow getroffen, indem sie mit Gesetz vom
7. März den Verkauf enteigneter Immobilien zu günstigen Bedingungen
in die Wege leitete, wovon vor allem Privilegierte des alten SED-Regimes
bevorzugt profitierten. In den Verhandlungen zum Einigungsvertrag verpflichtete
sich die DDR bis auf Weiteres zur Nichtveräußerung von Grundstücken
mit ungeklärten Eigentumsansprüchen. Veräußerungen
aus der Zeit nach Honeckers Sturz am 18. Oktober 1989 sollten überprüft
werden, was auch gegen das Gesetz der Modrow-Regierung vom 7. März
gerichtet war. Klaus Schroeder zufolge war die angesetzte Überprüfung
aber nur von geringer Wirkung:
„So
wurden z. B. die Häuser der Versorgungseinrichtungen des Ministerrates
(VEM) an Nomenklaturkader verkauft, die konspirativ genutzten Gebäude
des MfS an Angehörige des Repressionsapparates. Wie viele Grundstücke
und Immobilien hierdurch kostengünstig in die Hand verdienter
Genossen gelangten und sich dort noch befinden, lässt sich nicht
beziffern. Das jüngste Urteil des Bundesverfassungsgerichts,
das den Modrow-Erlass für nicht rechtens erklärt hat, scheint
hieran wenig geändert zu haben.“
Das Berliner
Abgeordnetenhaus hat laut Schroeder die damaligen Käufe quasi legalisiert;
Kommunen hätten durch Nachbeurkundungen und den Verzicht auf die
Ausübung ihres Vorkaufsrechts den besagten Transaktionen ihrerseits
dauerhaft Fortgeltung verschafft. „Unter dem Strich bleibt wohl
nur die Erkenntnis, dass auch auf diesem Feld die ehedem Privilegierten
nach einem Systemwechsel ihre alten Vorteile in erheblichem Umfang sichern
konnten.
Umgang
mit der Stasi-Erblast
Zu den
besonders umstrittenen Feldern im deutsch-deutschen Einigungsprozess
gehörte die Hinterlassenschaft des Stasi-Apparates (MfS), dessen
offizielle Auflösung ja bereits in der Wende-Zeit längst vor
den Märzwahlen zur neuen Volkskammer durchgesetzt worden war im
Zusammenwirken der Oppositionskräfte am Zentralen Runden Tisch
mit Demonstranten und Bürgerkomitees überall in der DDR.
Noch in
Auflösung und Zerfall schafften es nicht wenige MfS-Mitarbeiter,
sich seit Ende 1989 aus verdeckten Ressourcen, über die dieser
Machtapparat verfügte, einiges zur eigenen weiteren Verwendung
abzuzweigen bzw. zuschanzen zu lassen, darunter Geld, Grundstücke,
Immobilien, technisches Gerät u. a. m. Ein Vermerk der zentralen
Abteilung Finanzen des MfS vom 13. Dezember 1989 empfahl den Mitarbeitern,
sich Geldbeträge besser von der Sparkasse der Dienststelle überweisen
zu lassen, weil hohe Bareinzahlungen von Angehörigen des Amtes
für Nationale Sicherheit (AfNS, zeitweilige MfS-Nachfolgeorganisation
unter der Regierung Modrow) bei zivilen Sparkassen bereits aufgefallen
waren.
So wurde
das Jahr des Einigungsprozesses auch eines der alten „Seilschaften“,
der Funktionärseliten des sich auflösenden Staatsapparats,
die einander halfen beiseite zu schaffen oder umzuwidmen, was noch zu
„retten“ war bzw. wessen man habhaft werden konnte:
„Dabei
geht es um die Aneignung von Grundstücken, dubiose Umgründungen
von genossenschaftlichen und kooperativen Wirtschaftseinheiten in
privater Hand, unkontrollierte Ausgründungen aus Großbetrieben
sowie Vermögensverschiebungen aller Art. Solche Seilschaften
nutzen die Beziehungen in die noch nicht erneuerten Verwaltungen,
zu dem nicht ausgetauschten Justizpersonal, sie üben Druck auf
Mitwisser und Alteigentümer aus oder zahlen mit Beteiligungen
und Schweigegeldern.“
Weniger
günstig für die MfS-Hauptamtlichen und –Unterstützer
entwickelte sich allerdings der Umgang mit der umfänglichen schriftlichen
Stasi-Hinterlassenschaft. Das energische Vorgehen der Oppositionskräfte
gegen die Stasi-Objekte hatte entscheidend dazu beigetragen, dass ein
Großteil des Aktenmaterials zu den DDR-weiten Bespitzelungsvorgängen
erhalten geblieben war. Was damit im vereinten Deutschland weiter geschehen
sollte, wurde in Ost und West kontrovers eingeschätzt. Da das MfS
nicht nur in der DDR, sondern auch in Westdeutschland Mitarbeiter angeworben
hatte, gab es hüben wie drüben größere und kleinere
Personenkreise, die an der Unzugänglichkeit, wenn nicht Vernichtung
des Stasi-Aktenmaterials interessiert waren.
In den
Absprachen zum Einigungsvertrag zeichnete sich zunächst ein restriktiver
Umgang mit diesem Stasi-Erbe ab. Bundesinnenminister Schäuble als
westlicher Verhandlungsführer vertrat den Standpunkt, man solle
gerade als Außenstehender zurückhaltend urteilen, wo „ein
Großteil der Menschen versuchte, aus seinem Leben für sich
das Beste zu machen, ohne sich allzu sehr in persönliche Schuld
zu verstricken. Jeder von uns im Westen hätte sich wohl im Zweifel
nicht anders verhalten, wenn er in diesen vierzig Jahren in der DDR
hätte leben müssen.“ Schäuble plädierte dafür,
sich auf „die schweren Fälle wirklicher Schuld“ zu
konzentrieren. Die wechselseitige Spionage wollte er als „teilungsbedingte
Straftaten“ außer Verfolgung stellen. Die Stasiakten sollten
der Verfügungsgewalt des Bundesarchivs in Koblenz „unter
strenger Aufsicht des Datenschutzbeauftragten“ unterstellt werden.
Damit war
auch DDR-Verhandlungsführer Krause zunächst einverstanden.
Anders fiel dagegen die Reaktion vieler Volkskammerabgeordneter aus,
denen schon die Behinderung der Bürgerkomitees bei der Sicherung
des Stasi-Materials unter der Modrow-Regierung als Aufklärungsvereitelung
und Täterbegünstigung erschienen war.
„Und
nach der Volkskammerwahl wurde die Situation nicht besser, sondern
schlechter, da der neue Innenminister Peter-Michael Diestel erklärte,
ein Bürgerkomitee sei nicht mehr erforderlich. Er sperrte ihnen
kurzerhand den Zugang zum Archiv und schickte den Komiteemitgliedern
für Ende Juni 1990 die Entlassungsbescheide.“
Von Mitte
Juni ab gab es einen Sonderausschuss der Volkskammer zur Auflösung
der Stasi unter Vorsitz Joachim Gaucks. So sollte auf parlamentarischer
Basis die Arbeit der Bürgerkomitees fortgesetzt werden. „Das
von Modrow eingesetzte Staatliche Auflösungskomitee, das die Regierung
de Maizière umstandslos übernommen hatte, hat sich unserer
Kontrolle allerdings weitgehend zu entziehen versucht, und der Innenminister
hat es gedeckt.“ Als besondere Herausforderung für Gauck
und seine Mitstreiter entpuppten sich die Stasi-Offiziere im besonderen
Einsatz (OibE). Dabei handelte es sich um verdeckt arbeitende MfS-Kräfte,
die sicherheitsrelevante Positionen in Wirtschaft, Polizei und Armee
innehatten und dort als eine geheime Reserve für den Notfall das
Überleben der Stasi sichern sollten. „Obwohl die elektronischen
Datenträger der Stasi mit personenbezogenen Angaben auf Beschluss
des Runden Tisches im März 1990 vernichtet worden waren, konnten
wir eine Liste von knapp 2000 OibE zusammenstellen. Es ging uns nicht
darum, diese Leute anzuprangern – noch gab es keinerlei Regelung
über den Umgang mit den Stasi-Akten –, aber aus ihren Stellen
wollten wir sie unbedingt entfernen.“
In der
politischen Perspektive verfolgte der Stasi-Ausschuss das Ziel, den
Aktenbestand zu sichten und zur Aufarbeitung in politischer, juristischer
und historischer Hinsicht zugänglich zu machen. Unverzüglich
wurde ein „Gesetz über die Sicherung und Nutzung der personenbezogenen
Daten des ehemaligen MfS/AfNS“ auf den Weg gebracht und am 24.
August 1990 in der Volkskammer nahezu einstimmig angenommen.
Der für
den Einigungsvertrag vorgesehene restriktive Umgang mit dem Stasi-Material
und dessen geplante Unterstellung unter das Bundesarchiv stießen
in wie außerhalb der Volkskammer auf geballten Widerstand. Am
4. September besetzten aus Protest unter anderen Bärbel Bohley
und Wolf Biermann die vormalige MfS-Zentrale in Ost-Berlin und traten
am 12. September sogar in einen Hungerstreik. Gauck wandte sich mit
dem ausdrücklichen Hinweis an DDR-Verhandlungsführer Krause,
dass auch die CDU-Volkskammerfraktion mit der vertraglich vorgesehenen
Regelung nicht einverstanden war. Der frühere Fraktionsvorsitzende
der Ost-SPD Richard Schröder erinnert daran, dass viele seiner
Fraktionskollegen ihre Zustimmung zum Einigungsvertrag von der westlichen
Zusage abhängig machten, dass die Stasiakten zugänglich würden.
„Die Zusage kam eine Stunde vor der entscheidenden Volkskammersitzung.“
Der mit Gauck in Bonn am 18. September ausgehandelte Kompromiss bestand
darin, den Einigungsvertrag um eine Zusatzklausel zu ergänzen,
wonach der Bundestag unmittelbar nach der Vereinigung ein eng an dem
Volkskammerbeschluss orientiertes Gesetz verabschieden sollte. Gauck
selbst wurde am 28. September 1990 in der Volkskammer als „Sonderbeauftragter
der Bundesregierung für die Verwaltung der Akten und Dateien des
ehemaligen Ministeriums für Staatssicherheit“ gewählt.
Als in
der letzten Arbeitssitzung der Volkskammer am 29. September 1990 die
Berichterstattung des Stasi-Sonderausschusses über seine Arbeitsergebnisse
anstand, kam es zu einer über Stunden sich hinziehenden hoch emotionalen
Auseinandersetzung darüber, ob und auf welche Weise die Namen von
Abgeordneten mit Stasi-Vorbelastung bekannt gegeben werden sollten.
Aus den Fraktionen von SPD und Bündnis 90 wurde dies vehement gefordert,
von CDU-Vertretern dagegen entschieden abgelehnt. Der zuständige
Prüfungsausschuss verweigerte die Namensnennung mit Berufung auf
die Schweigepflicht. Abgeordnete von Bündnis 90/Grüne begannen
daraufhin einen Sitzstreik vor dem Präsidiumstisch. Der Volkskammer-Vizepräsident
Reinhard Höppner handelte nach Unterbrechung der Sitzung mit beiden
Seiten einen Kompromiss aus: Die Namen der 15 Hauptbelasteten sollten
genannt werden, den Genannten aber zugleich Gelegenheit zu einer Erklärung
gegeben werden. Allerdings waren da den Journalisten außerhalb
des Sitzungssaals bereits Listen mit allen 56 Beschuldigten zugespielt
worden.
„Die
Betroffenen beteuerten ihre Unschuld oder erklärten, Mitleid
erheischend, wie sie in diese Situation gekommen waren. Einige verteidigten
auch ihre Tätigkeit. Für die Zuhörer waren diese Auftritte
eher peinlich. Zur Wahrheitsfindung trugen sie nicht bei. Später
stellte sich heraus, dass viele schlimme Fälle nicht genannt
worden waren, manche Personen dagegen zu Unrecht auf der Liste gestanden
hatten.
Feierlichkeiten
zum Vollzug der Einigung am 3. Oktober 1990
Die Wiederherstellung
der staatlichen Einheit Deutschlands war landesweit von einer Vielzahl
festlicher Veranstaltungen und Aktivitäten begleitet, in deren
Zentrum am 2. und 3. Oktober das Geschehen im Ost- und Westteil der
nun wieder gemeinsamen Hauptstadt Berlin stand. Die Festlegung auf den
3. Oktober als Datum der Vereinigung und damit künftigen Tag der
Deutschen Einheit war in der Volkskammer vorgenommen worden.
Abschiede
nach vier Jahrzehnten getrennter Vergangenheit
Als letzter
Tag in der DDR-Geschichte war der 2. Oktober ein von ganz unterschiedlichen
Emotionen geprägter Tag der Abschiede, nicht erst bei der Ostberliner
Abendveranstaltung im Konzerthaus am Gendarmenmarkt, sondern bereits
am frühen Nachmittag, als der Berliner Senat die drei westlichen
Stadtkommandanten in der Philharmonie feierlich verabschiedete. Ihre
besondere Funktion als Träger der obersten Gewalt in der Westhälfte
der Stadt ging nun zu Ende. Laut Duisberg ließen sie deutlich
erkennen, dass ihnen der Rückzug aus diesen für hohe Militärs
sowohl einträglichen als auch seit langem recht ruhigen Schutzmächte-Posten
nicht leicht fiel. „Ich meinte auch bei den Berlinern einen Hauch
von Wehmut zu spüren, da für sie ebenfalls eine Zeit zu Ende
ging, in der West-Berlin als von Bonn alimentiertes, sonst aber quasi-autonomes
Gebilde zuletzt ganz gut gelebt hatte.“
Bundeskanzler
Kohl betonte in einer Fernsehansprache nicht zuletzt die wichtige Rolle
der westlichen Verbündeten im Rahmen des Einigungsprozesses, außerdem
die von Gorbatschow dafür geschaffenen Voraussetzungen und den
entscheidenden Anteil der demokratischen Protestbewegung gegen das SED-Regime
im Zuge der friedlichen Revolution. Zu den innergesellschaftlichen Perspektiven
im vereinten Deutschland äußerte er die Erwartung, dass die
bevorstehende schwierige Wegstrecke erfolgreich bestanden würde,
wenn Zusammenhalt und Opferbereitschaft zum Tragen kämen. Nie sei
man auf die Wiedervereinigung wirtschaftlich besser vorbereitet gewesen
als eben zu diesem Zeitpunkt. Dazu kämen Fleiß und Leistungsbereitschaft
der Ostdeutschen. „Durch unsere gemeinsamen Anstrengungen, durch
die Politik der Sozialen Marktwirtschaft werden schon in wenigen Jahren
aus Brandenburg, aus Mecklenburg-Vorpommern, aus Sachsen, aus Sachsen-Anhalt
und aus Thüringen blühende Landschaften geworden sein.“
Von besonderer Bedeutung sei die Entwicklung wechselseitigen Verständnisses
von West- und Ostdeutschen füreinander und die Überwindung
eines Denkens, das Deutschland in „hüben“ und „drüben“
weiterhin aufteile.
Im Konzerthaus
am Gendarmenmarkt gab es am Abend außer der Aufführung von
Beethovens 9. Symphonie unter Kurt Masur eine Ansprache des scheidenden
Ministerpräsidenten Lothar de Maizière, in der er den Rückblick
auf 40 Jahre DDR-Geschichte mit dem Ausblick auf das geeinte Deutschland
verband. Mauer, Stacheldraht und Staatssicherheit hätten den Sozialismus
zum Knüppel verkommen lassen, zitierte er Václav Havel.
Ausführlich würdigte de Maizière unter dem Beifall
des Auditoriums die Akteure der friedlichen Revolution des Herbstes
1989. In der Zukunft habe man es mit den hoffnungsvoll veränderten
Bedingungen von Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer
Gerechtigkeit zu tun, die höher einzuschätzen seien als die
materiellen Vorteile, die nach vielen Entbehrungen verständlicherweise
so leicht in den Vordergrund rückten. Das in hohem Ansehen stehende
Grundgesetz habe als Grundprinzip die verantwortete Freiheit.
„Die
Freiheit ist der beste Förderer unserer individuellen Fähigkeiten;
sie gehört zugleich zu den größten Prüfungen des
menschlichen Charakters. Sie für sich und zugleich auch im Sinne
des Gemeinwohls zu verwirklichen, ist eine faszinierende Aufgabe für
uns alle. Nicht was wir gestern waren, sondern was wir morgen gemeinsam
sein wollen, vereint uns zum Staat. Von morgen an wird es ein geeintes
Deutschland geben. Wir haben lange darauf gewartet, wir werden es gemeinsam
prägen, und wir freuen uns darauf.“

Feier zur deutschen Wiedervereinigung vor dem Reichstag

Staatsakt in der Philharmonie zum Tag der deutschen Einheit
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