Trotz der politischen Unruhen hatten
der Berliner Magistrat und die gesamte städtische Verwaltung relativ unbehelligt
arbeiten können. Am 18. November 1918 war sogar die alte Stadtverordnetenversammlung
wieder zusammengetreten. Am 23. Februar 1919 wurde sie neu gewählt, endlich
nach dem allgemeinen und gleichen Wahlrecht, das keine Klassen mehr kannte.
SPD (31,8 %) und USPD (33,O %) bekamen zusammen zwei Drittel der Mandate.
Auch hier wählten jetzt erstmals die Frauen mit. Bald darauf erlebte Berlin eine grundlegende Kommunalpolitische
Reform. SPD und USPD setzten im preußischen Parlament das ,,Gesetz über
die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin" durch - dank Stimmenthaltung
des Zentrums und gegen den widerstand der meisten Abgeordneten der übrigen
bürgerlichen Parteien, die ein ,,rotes" Berlin mit einem von der
SPD und anderen linken Parteien beherrschten Rathaus fürchteten.
Das Gesetz vom 27. April1920 trat am 1. Oktober 1920 in kraft und machte
,,Groß-Berlin" endlich zur modernen Großstadtgemeinde. Es faßte die
inzwischen 3,8 Millionen Einwohner - die sich bisher auf Berlin (1,9 Millionen)
und sieben weitere Städte (1,2 Millionen) mit zusammen fast 3,1 Millionen,
59 Landgemeinden und 27 Gutsbezirke verteilten - unter einheitlicher Verwaltung
zusammen. Zehn Jahre später, 1930, lebten in Berlin 4,3 Millionen Menschen.
Für Groß-Berlin waren nach diesem Gesetz alle vier Jahre 225 Stadtverordnete
zu wählen. Die Verwaltung leitete wie bisher der Magistrat, der aus höchstens
30 Mitgliedern, mit dem Oberbürgermeister an der Spitze, bestand. 18 besoldete
Magistratsmitglieder waren von den Stadtverordneten auf zwölf Jahre, die
unbesoldeten auf vier Jahre zu wählen. An Fläche umfaßte Berlin jetzt
rund 880 Quadratkilometer (1920: 878,1 qkm, seit 1938:883,66 qkm). Zugleich
mit dem Zusammenschluß unterteilte man Berlin in 20 Bezirke. Zwölf von
ihnen bilden Berlin (West), und 8 befanden sich in Berlin (Ost).
Jeder Bezirk erhielt ein Bezirksamt mit sieben bis 14 Mitgliedern: dem
Bürgermeister und den Bezirksstadträten. Eine Bezirksversammlung, aus
gewählten Bezirksverordneten und den Stadtverordneten des Bezirks bestehend,wählte
und kontrollierte das Bezirksamt. Zentralisierung der Aufgaben und Bürgernähe
sollten miteinander verbunden werden. Was nicht vom Magistrat verwaltet
und entschieden werden mußte, war Aufgabe der neu gebildeten Bezirke.
,,Alt-Berlin" wurde in sechs Bezirke aufgeteilt. Von ihnen liegen
heute drei (Mitte, Prenzlauer Berg und Friedrichshain) im östlichen und
drei (Kreuzberg, Tiergarten und Wedding) im westlichen Teil Berlins.
Gab es nun ein ,,rotes" Groß-Berlin, wie die bürgerlichen Parteien
befürchteten? In Wirklichkeit hat die Erweiterung eben dies eher verhindert.
Im engen ,Alt-Berlin" mit seinen Mietskasernen-Vierteln hatte die
SPD schließlich 75 % aller Wählerstimmen erhalten und fünf der sechs Reichstags-Abgeordneten
gestellt. Doch seitdem 1920 auch der weite Kreis der Villenvororte Teil
der Stadt geworden war, kamen selbst SPD und USPD/KPD zusammen nur noch
auf eine knappe Mehrheit der Wähler. Damit ließ sich wegen der Zerstrittenheit
der sozialistischen Parteien kein aktionsfähiger Magistrat bilden. So
wählte die SPD 1920 trotz aller Vorbehalte den bürgerlich-demokratischen
Oberbürgermeister Gustav Böß mit, der ein Jahrzehnt lang die Stadt ,,regierte".
Inflation
und politischer Mord
Die schleichende Geldentwertung und Teuerung, die mit dem Kriege
eingesetzt hatte, wurde in den ersten Nachkriegsjahren zur immer schneller
galoppierenden Inflation. Hinzu kamen die harten Friedensbedingungen der
Weltkriegs-Sieger, die 1919 im Friedensvertrag von Versailles von Deutschland
hohe Reparationen verlangten, in Geld und Waren. Als die Lieferungen nicht
pünktlich rollten, besetzten die Franzosen als ,,Pfand" das Ruhrgebiet.
In Deutschland versuchten rechte Parteien und Gruppen,
aus all dem politisches Kapital zu schlagen". Die ,,Dolchstoßlegende"
von der Schuld der Revolution am verlorenen Krieg ging um: Die Heimat
sei der kämpfenden Front in den Rücken gefallen. Die demokratische Republik
wurde als ,,Juden Republik", deren Vertreter, die das ,,Versailler
Friedensdiktat" unterschreiben mußten, wurden im nachhinein als Regime
der ,,November- Verbrecher" verleumdet. Schon bei den ersten
Reichstagswahlen am 6. Juni1920 verlor die ,,Weimarer Koalition"
im Reich ihre Mehrheit. Das übertreibende Schlagwort von der ,,Republik
ohne Republikaner" kam auf.
Inflation -
Alptraum der Berliner 15.November. Die Ausgabe der
Rentenmark als Ersatz für das praktisch wertlos gewordene Papiergeld
leitet das Ende der seit April zunehmend katastrophaleren inflationären
Entwicklung ein, die in Berlin zu Massenelend und sozialen Konflikten
geführt hat. Eine Verordnung vom Vortag spiegelt die grotesken Zustände
in der Stadt wider: Schlemmerlokale und Tanzpaläste werden zur Einrichtung
von Volksküchen und Wärmehallen requiriert. Für Devisen bekommt man alles;
Ausländer und deutsche Spekulanten leben im Luxus. Auch die »kleinen Leute«
lenken sich durch billige Vergnügungen von Bedrohungen ihrer Existenz
ab.
Wer nicht zu den 250000 Arbeitslosen gehört, dessen Reallohn schrumpft
von Tag zu Tag. Im Oktober muß ein Facharbeiter für ein Pfund Margarine
neun Stunden arbeiten. Täglich mittags wird das von Ullsteins Druckereimaschinen
in der Kochstraße produzierte Papiergeld Kofferweise ausgezahlt; man rennt
damit zum nächsten Laden um Lebensmittel oder Sachgüter zu kaufen, ehe
das Geld wertlos geworden ist. Lebensmittel sind die wahre Währung; Unternehmen
zahlen den Lohn in Broten. Als ein Vierpfundbrot am 4. November plötzlich
420 Millarden Mark kostet (am 1.waren es 130 Milliarden), plündern aufgebrachte,
verzweifelte Bürger die Bäckerläden. Die zunehmende Lebensmittelverknappung
verleitet zu Felddiebstählen rings um die Stadt. Bauern verteidigen ihre
Erträge, die sie für wertloses Papiergeld nicht verkaufen wollen, mit
Schußwaffen töten sie mehrere Menschen.
In diese gespannte Situation fällt die Einführung der Rentenmark, zu deren
Deckung man aus Mangel an Goldreserven Grundbesitz und Industrie mit Hypotheken
belastet hat. Am 20. November des Jahres wird das Umtauschverhältnis zum
Dollar fixiert (1 US-Dollar = 4,2 Billionen Papiermark); eine Million
Papiermark entsprechen nun einer Gold- oder Rentenmark. Das Ende der Krise
ist erreicht.
Papiergeld der Inflationszeit: Täglich werden neue Banknoten gedruckt
und auf schnellsten Wegen in Umlauf gebracht (Banknote, 1922) Waschkorbladungen
voll Papiergeld verlassen die Reichsbank.
Politische
Radikalisierung Am 17. November 1929 gab es eine für städtische
Wahlen sehr hohe Wahlbeteiligung von 70,3 %. Hitlers ,,Nationalsozialistische
Deutsche Arbeiterpartei" (NSDAP) und die ,,Deutschvölkische Freiheitspartei"
nahmen gegenüber 1925 um 112000 Stimmen zu und erreichten zusammen über
139000 Stimmen; das waren 5,8 %. Die ,,Deutschvölkische", zu deren
Gunsten die NSDAP 1925 auf Kandidaten verzichtet hatte, erhielten davon
nur noch 7400 Stimmen. Noch mehr hatten, mit einer Zunahme um fast 218000
Wähler, die Kommunisten gewonnen, die damit 24,6 % erreichten. Insgesamt
hatte es 1929 über 440000 Stimmen mehr als 1925 gegeben. Sie kamen also
zu drei Vierteln (330000) den beiden Flügelparteien zugute. Das war, auch
wenn die SPD mit nur noch 28,4 % knapp den Rang der stärksten Partei behauptete,
im politischen Zentrum des Reiches ein ernstes Zeichen der Radikalisierung.
Fraktionschef der NSDAP im Rathaus wurde Joseph Goebbels, der seit 1926
die Berliner NSDAP und ihre ,,Sturmabteilungen", die SA, mobilisiert
hatte. Vorsitzender der KPD-Fraktion war Wilhelm Pieck, der spätere DDR-Präsident.
Unterdessen bildete der Landtag auf Antrag
der Deutschnationalen einen Untersuchungsausschuß ,,zur Prüfung der Mißwirtschaft
in der Berliner Stadtverwaltung". Anfang 1931 schränkte ein preußisches
Gesetz Berlins Selbstverwaltung ein und stärkte die Position des Oberbürgermeisters
als ,,Führer der Verwaltung". Erst jetzt, über ein Jahr nach dem
Rücktritt von Böß, wurde der parteilose, als konservativ geltende frühere
Danziger Senatspräsident Heinrich Sahm zum Nachfolger gewählt.
Das Ende
der Demokratie Die Wirtschaftskrise entwickelte
sich zur Staatskrise, und Berlin war zwangsläufig ihr Zentrum. Seit den
Septemberwahlen 1930, die den Nationalsozialisten 107 statt der bisherigen
zwölf Reichstagssitze und allein in Berlin fast 400000 Wähler (14,60/0)
gebracht hatten, regierte Reichskanzler Brüning vor allem mit Notverordnungen,
da er für wichtige Gesetze keine Mehrheit fand. Sein ,,Präsidialkabinett"
hatte 1930 die letzte von einer Parlamentsmehrheit getragene Koalition
abgelöst, deren Chef noch einmal ein Sozialdemokrat, Hermann Müller, gewesen
war.
1932 spitzten sich die Ereignisse zu. Im April wurde Reichspräsident Paul
von Hindenburg, Generalfeldmarschall des Ersten Weltkrieges, wiedergewählt.
1925 war er nach Eberts Tod als Kandidat der Rechten Reichspräsident geworden.
Nun, 1932, war er dagegen der Kandidat der Mitte und der SPD gegen Adolf
Hitler, den die Rechte unterstützte. Bald danach entließ Hindenburg den
Reichskanzler Brüning und ernannte den konservativen Katholiken Franz
von Papen zum Nachfolger. Papen trieb die Krise voran, indem er die nach
zahllosen Straßenschlachten verbotene SA wieder zuließ. Die Nazis verstärkten
in Berlin ihren Straßenterror, und diesen erneuten Bürgerkrieg nahm Papen
am 20. Juli1932 mit zum Vorwand, um über Berlin und Brandenburg den Ausnahmezustand
zu verhängen und die preußische Regierung, mit dem Sozialdemokraten Otto
Braun an der Spitze, abzusetzen. Unter ihm und mit einer Regierung der
,,Weimarer Koalition" war Preußen, das zwei Drittel des Reiches umfaßte,
bis dahin durch alle Krisen eine wichtige Stütze der Demokratie gewesen.
Schon vor diesem ,,Preußensch lag", der einem Staatsstreich nahe
kam, hatte Papen den Reichstag aufgelöst. Die Wahl am 31. Juli 1932 brachte
erstmals NSDAP und KPD zusammen jene ,,negative" Mehrheit, die nicht
regieren, aber die Regierung durch Aufhebung der Notverordnungen lahmlegen
konnte. Die NSDAP erhielt im Reich jetzt 37'4 % (in Berlin 28,6 %), die
KPD 14,6 % (in Berlin 27,3 %). Die SPD bekam 21,6 % (in Berlin 27,3 %)
der gültigen Stimmen.
Der Reichstag wurde erneut aufgelöst.
Bevor er - mit leichten Verlusten der NSDAP, die an den Mehrheiten nichts
änderten - im November
1932 wiedergewählt wurde, erlebte Berlin noch ein Zwischenspiel besonderer
Art: Die KPD unter Walter Ulbricht, der inzwischen Parteichef von Berlin-Brandenburg
war, und die NSDAP unter Goebbels, dem Gauleiter von Berlin, organisierten
zusammen einen Streik gegen Lohnkürzungen bei der BVG und legten vorübergehend
das Verkehrsnetz Berlins lahm.
Zwei Monate später, nachdem Papen ebenso wie sein Nachfolger, General
von Schleicher, gescheitert war, ernannte Hindenburg Adolf Hitler am 30.
Januar 1933 zum Reichskanzler.
,,Die Berliner" haben ihn gewiß nicht gewählt. Gerade in der Hauptstadt
kam die NSDAP, bevor sie an der Macht war, kaum über ein Viertel der Stimmen
hinaus. Fast drei Viertel der Berliner stimmten gegen sie - aber damit
noch nicht für die Weimarer Demokratie. Nimmt man KPD, NSDAP und die mit
ihr in der ,,Harzburger Front" verbündeten Deutsch nationalen zusammen
als Parteien, die bei aller Gegensätzlichkeit ihrer Programme in der Ablehnung
des parlamentarisch-demokratischen Staates übereinstimmten, so stimmten
auch zwei Drittel der Berliner Wähler gegen ,,Weimar". Das gehört
zu den Widersprüchen, an denen zwischen 1918 und 1933 die deutsche Demokratie
zerbrochen ist.